Analyse der Luxemburger Ergebnisse der OECD-Bildungsstudie Pisa 2018

Pippi statt Pisa

Das Luxemburger Schulsystem diskriminiert Arbeiterkinder
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 06.12.2019

Zwei Abwesende prägten das Bild der diesjährigen Pisa-Pressekonferenz des Bildungsministeriums: Der zuständige Schulminister Claude Meisch (DP) war gar nicht erst zur Vorstellung der Ergebnisse erschienen, angeblich, weil das Ministerium eine neue Linie verfolge, so sein Berater Alex Folscheid: Politisches und Wissenschaftliches nicht zu vermischen.

Der zweite Abwesende, der manchem Journalisten nicht einmal auffiel: Es gab keinen eigenen Länderbericht für Luxemburg. Es sollte die Präsentation der Pisa-Resultate sein, aber alles, was die Journalisten ausgehändigt bekamen, war ein vom Bildungsministerium und Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques ausgearbeitetes siebenseitiges Pressekommuniké. Dessen Inhalt fasste Script-Luc Weis so zusammen: Die Luxemburger Resultate seien „stabil“, oder wie es Folscheid ausdrückte, sie befänden sich in einer „Konstanten“.

„Stabil“ klingt besser Er hätte auch sagen können: Die strukturellen Probleme des Bildungssystems sind seit der ersten Teilnahme 2003 unverändert. Luxemburg bleibt bei Pisa unterm Mittelmaß und ist das OECD-Land, das Arbeiterkinder in ihren Bildungschancen wie kein anderes diskriminiert. Nirgendwo ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und schulischen Leistungen so stark wie im Großherzogtum.

Die weiteren Pisa-Ergebnisse sind ebenfalls schlecht. Luxemburgs 15-Jährige sind in ihren Leistungen abgerutscht, und zwar in allen drei getesteten Kompetenzbereichen. Im Durchschnitt erzielten Luxemburger Schüler 470 Punkte beim Lesen. Das liegt nicht nur unter dem OECD-Mittel von 487 Punkten, sondern unter dem Durchschnitt fast aller EU-Staaten. In Naturwissenschaften sind die Leistungen mit 477 Punkten (OECD-Durchschnit: 487) ebenfalls unterdurchschnittlich und zählen zu den niedrigsten in Europa. In Mathe schnitten Luxemburgs SchülerInnen mit 483 Punkten ebenfalls unterdurchschnittlich (OECD: 489) ab. Im Lesen und in den Naturwissenschaften lagen die 15-Jährigen sogar unter den Testergebnissen von 2012 und 2015.

Das Ministerium erklärt das miese Abschneiden in erster Linie mit der Zuwanderung: In Luxemburg haben 55 Prozent der Schüler einen Migrationshintergrund. Sie sind nicht in Luxemburg geboren und Luxemburgisch ist nicht ihre Muttersprache. Was das Ministerium nicht sagt: Auch wenn der Einwandererzuwachs der stärkste unter den OECD-Staaten ist, bleibt der Anteil der sozial benachteiligten Einwandererkinder vergleichbar mit anderen Teilnehmerländern. Nicht alle MigrantInnen stammen aus armen Familien. Auch darüber, dass Schüler der ersten Einwanderergeneration, anders als übrigens in den meisten anderen OECD-Staaten, besser abschnitten als die der zweiten Generation, verliert es kein Wort. Tatsächlich zeigt eine andere Statistik, die das Luxemburger Wort veröffentlichte, die aber ebenfalls nicht in der Pressemitteilung auftaucht, dass sich die Leistungen der Einwandererkinder bei Pisa in den vergangenen Jahren kontinuierlich verbessert haben, während die der Kinder ohne Migrationshintergrund gesunken sind.

Soziale Diskriminierung Auch hat die soziale Herkunft nach wie vor einen viel stärkeren Einfluss auf das Leistungsgefälle, als die Nationalität. Schüler aus besser gestellten Familien erzielten 122 Punkte mehr im Lese-Test als Arbeiterkinder, das sind 33 Punkte mehr als der durchschnittliche OECD-Leistungsabstand von 89 Punkten. Nur acht Prozent der Arbeiterkinder können mit dem obersten Leistungsviertel mithalten, eine der niedrigsten Quoten im OECD-Teilnehmerfeld überhaupt.

Das sind alles beileibe keine neuen Erkenntnisse. Und trotzdem ist es dem Bildungsministerium bis heute nicht gelungen, diesen negativen Trend umzukehren. Die Frage, die sich mittlerweile aufdrängt: Wollen die politisch Verantwortlichen das überhaupt? Folscheid kündigte lediglich an, die Resultate insbesondere der schwächsten Schüler, von denen sich viele im so genannten Regime Préparatoire befinden, mit Hilfe der Experten des Observatoriums genauer analysieren sowie einen Aktionsplan aufstellen zu wollen. Ansonsten sah er die bildungspolitische Marschrichtung seines Ministers mit Gratis-Sprachförderung im Kindergarten, differenziertem Sprachenangebot, neuen Französischbüchern im Großen und Ganzen bestätigt. Wie er darauf kommt, bleibt sein Geheimnis: Die Leistungen der Grundschüler wurden bei Pisa nicht gemessen; Effekte der bilingualen Sprachförderung dürften sich frühestens in einigen Jahren zeigen.

Kill the messenger Statt die Pisa-Ergebnisse als Anlass zu nehmen, endlich wirksame tiefgreifende Maßnahmen gegen die seit Jahrzehnten andauernde Diskriminierung von Arbeiterkindern zu veranlassen, betonte Folscheid, dass Luxemburg Vorreiter beim Aufbau eines landeseigenen Bildungsmonitorings sei. Künftig will sich das Ministerium stärker auf die landesweiten Leistungstests (Épreuves standardisées) des Luxembourg Centre for Educational Testing (Lucet) stützen und nur noch alle sechs Jahre an Pisa teilnehmen. Dass sei keine Abkehr von evidenzbasierter Bildungspolitik, beteuerte der Beamte. Und doch ist auffällig, wie sehr dem Ministerium daran gelegen ist, Luxemburg als Ausnahmeland darzustellen, das mit anderen Ländern partout nicht vergleichbar sei. Dabei weiß jede/r mit Grundkenntnissen in Statistik, dass kein Land wie ein anderes ist und die zentrale Übung Länder vergleichender Studien gerade darin besteht, unterschiedlichen Ausgangsbedingungen statistisch Rechnung zu tragen.

Aber um Wissenschaft geht es bei der Darstellung der Pisa-Studie schon lange nicht mehr. Eher fühlt man sich als Beobachterin an Pippi Langstrumpf erinnert: Die macht sich ihre Welt auch so, wie sie ihr gefällt. Wissenschaftliche Analysen werden von den politisch Verantwortlichen lückenhaft präsentiert, ihre Aussagekraft wird heruntergespielt – bis nichts mehr von ihr übrigbleibt. Es könnte ja sonst jemand politische Konsequenzen fordern. Dass mag bei Gewerkschaften und reformmüden Lehrern ankommen; den SchülerInnen, die zu den Bildungsverlierern zählen, hilft es null. Das Schulsystem braucht unabhängige, schonungslose Bestandsaufnahmen und den unverstellten Blick von außen, um Defizite klar zu benennen und wirksam gegenzusteuern. Die landesweiten Leistungstests des Lucet sind kaum ein Ersatz für das internationale Bildungsmonitoring, was sich nicht zuletzt am geringen öffentlichen Interesse zeigt, das dem Nationalen Bildungsbericht 2018 (sogar von Bildungsakteuren) entgegengebracht wurde.

Dass Politiker sich schwer damit tun, sich negativen Trends zu stellen (und dieser Schulminister, wie seine Abwesenheit belegt, ganz besonders), weil das ihre Politik infrage stellt, und sie lieber Schönwetternachrichten verbreiten, ist nichts Neues. Erstaunlich ist allerdings, dass ein Dienst wie der Script, der zwar zum Ministerium gehört, aber in seinem Namen zumindest den Anspruch wissenschaftlicher Recherche trägt, sich für eine so verzerrende Vorstellung hergibt. Diejenigen, die interessiert sind, die Pisa-Studie von 2018 ungefiltert und ohne die beschriebenen Auslassungen zu lesen: Die OECD hat einen Länderbericht zu Luxemburg veröffentlicht, der unter www.oecd.org/pisa/publications/PISA2018_CNT_LUX.pdf abgerufen werden kann.

Ines Kurschat
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