Russland annektiert die Ukraine

Ende einer Illusion

d'Lëtzebuerger Land du 21.03.2014

„Wir sind von Freunden umzingelt“, pflegten die deutschen Grünen mehr als zehn Jahre lang nach Wiedervereinigung, Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Abzug der russischen Soldaten aus Ostdeutschland zu sagen. Sie waren nicht die einzigen in Europa, die sich dieser Illusion hingaben. Viele „im Westen“ waren dieser Ansicht. Putin hat diese Illusion mit der kunstvoll inszenierten Annexion der Ukraine endgültig zerstört. Während dieser Artikel geschrieben wird, stürmen inoffizielle russische Truppen schon die zweite und dritte ukrainische Militärbasis auf der Krim. Vieles spricht dafür, dass weitere folgen werden.

Die führenden Politiker der Europäischen Union und der amerikanische Präsident schwören Stein und Bein, dass sie das russische Vorgehen und die Annexion der Krim niemals anerkennen werden und wissen doch nur zu genau, dass der Anschluss der Krim, diesen Ausdruck aus dem Jargon der Nazis darf und muss man benutzen, nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Ein demokratisches Russland ist die Voraussetzung für einen dauerhaften Frieden auf dem europäischen Kontinent. Ein solches scheint nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 heute weiter entfernt denn je. Für aufgeklärte Zeitgenossen ist Russland kein Feind, sondern sind die Russen europäische Brüder und Schwestern so wie alle Europäer. Wir gehören zusammen, aber es gibt da ein Problem. Das Putin’sche Russland hat alle Anstandsregeln gebrochen, auf die die europäische Familie so viel Wert legt. Noch nie seit den Zeiten des Kalten Krieges ist so ein eiskaltes Propagandastück auf der europäischen Bühne gespielt worden wie beim Anschluss der Krim. Damit hat niemand gerechnet, damit wollte niemand rechnen, obwohl Putin bereits 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz Klartext gesprochen hatte und 2008 seinen Ankündigungen in Georgien Taten folgen ließ. Robert Gates, damals Verteidigungsminister der USA, spielte 2007 die Aussagen Putins herunter. Es konnte nicht sein, was nicht sein durfte.

Das größte Problem der Ukraine ist nach dem Verlust der Krim die unverhüllte Drohung Russlands, in den Osten der Ukraine einzumarschieren, wann immer es das für richtig erachtet. Das größte Problem der EU ist es, dass sie keinerlei unmittelbare Machtmittel besitzt, um Russland in die Schranken zu weisen. Krieg ist keine Option, war in etwa die erste Bemerkung der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, als Russland die Krim besetzte. Sie hat Recht damit. Aber welche Optionen hat die EU noch?

In den europäischen Sonntagsreden wird schon seit vielen Jahren verkündet, dass die europäischen Länder nur gemeinsam stark seien. Leider schaffen es die Europäer nicht, dafür innerhalb der EU die strukturellen Voraussetzungen zu schaffen. In der Außenpolitik besteht immer noch Vetorecht. So können zum Beispiel Zypern und Bulgarien Beschlüsse verhindern, die Russland schaden, wenn sie innereuropäischem Druck standhalten. Deutschland ist wegen seiner wirtschaftlichen Kraft der mächtigste Mitgliedstaat der EU. Nicht nur im aktuellen Konflikt kommt diesem Land und seiner Bundeskanzlerin eine führende Rolle zu. Wie in der Eurokrise bestimmt auch dieser Tage Angela Merkel den Ton und die Politik. Sie setzt auf Sanktionen, die so weich wie möglich ausfallen, damit, wie es heißt, eine diplomatische Lösung noch möglich ist.

Aber ist Deutschland in der Lage, diese Führungsrolle auch in einem europäischen Sinne auszufüllen? In der Euro-Schuldenkrise haben Angela Merkel und ihre Regierung insoweit völlig versagt, als dass sie niemals in der Lage waren, Schuldner- und Geberländern eine europäische Perspektive für ein besseres Morgen zu bieten. Über die unmittelbare Krisenbewältigung wollte man nicht hinaussehen und schon gar nichts abgeben, weder Souveränität noch nationale Bonds. Deshalb ist die Spaltung der EU heute so groß. Was kann, was müsste Deutschland in der aktuellen Krise mit Russland tun? Da man dem russischen Präsidenten nie wieder glauben kann, was er sagt, sondern ihn nur noch an seinen Taten messen muss, kommt es jetzt vor allem darauf an, Putin etwas entgegen zu setzen. Zu glauben, dass er niemals in die Ukraine einmarschiert, niemals Transnistrien und Moldawien annektiert und niemals die russischstämmige Bevölkerung im Baltikum schützen wird, wäre mehr als fahrlässig.

Die EU muss Bedingungen schaffen, dass ein undemokratisches und neoimperialistisches Russland nicht die Möglichkeit hat, 1991 verlorene Territorien nach und nach zurückzuholen. Die Wirklichkeit hat die EU wieder einmal auf schreckliche Weise eingeholt. Und wie immer sind alle Fortschritte der Integration zu langsam, zu spät. Deutschland muss bereit sein, schmerzhafte Sanktionen gegen Russland zu verhängen und die Integration voranzutreiben. Eine gemeinsame europäische Armee muss endlich in Angriff genommen werden, anderes auch. Wenn die Europäer glauben, sie könnten weitermachen wie bisher, dann sollten sie sich, frei nach Brecht, lieber einen Kontinent suchen, auf dem Russland nicht zu Hause ist.

Christoph Nick
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