Eine Antwort an Tania Naskandy

Dünnes Eis

d'Lëtzebuerger Land du 19.03.2010

Liebe „Tania Naskandy“, Sie haben natürlich Recht: Literaturkritiker sollten über Bücher schreiben, nicht über Autoren (d'Land 04/10 vom 29. Januar 2010). Dass ich Ihren Roman Sibiresch Eisebunn sehr schätze, habe ich in meiner Rezension deutlich gesagt und zu begründen versucht. Für Autoren würde ich allerdings im Umkehrschluss die Regel aufstellen wollen, dass Sie lieber Bücher schreiben sollen, als Ihre Zeit und Kreativität mit fiktiven Lebensbeschreibungen zu vertun. Sie wollen es bei meiner kleinen Stichelei gegen Ihre bio-bibliographische Notiz nicht bewenden lassen (d'Land 03/10 vom 22. Januar 2010), legen mir meine Skepsis als „Google-Gläubigkeit“ aus und vermuten auch noch, ich hätte Ihr Buch nicht gründlich genug gelesen. Also gut; der Handschuh ist angekommen. So will ich es kurz machen: Ich halte es für völlig ausgeschlossen, dass Sie die Person sind, als die Sie Sich ausgeben.

Die erste Unvorsichtigkeit, die Sie beim Versuch der Verschleierung Ihrer wahren Identität begingen, war die Wahl eines zu exotischen Namens. Hätten Sie Sich einen Allerweltsnamen
wie „Tania Müller“ ausgesucht (oder meinetwegen „Tania Schmit“), wäre eine Internetrecherche vermutlich von vornherein sinnlos gewesen. So kann ja jeder heißen. Sie behaupten, Sie seien väterlicherseits ungarischer Abstammung, seien in Luxemburg aufgewachsen und lebten mittlerweile in Winterthur. Wie seltsam, dass Ihr Nachname weder im Schweizer, noch im Luxemburger Telefonbuch zu finden ist! Im Budapester Telefonbuch, das ich sicherheitshalber auch konsultiert habe, stehen ebenfalls keine Naskandys. Das beweist natürlich noch überhaupt nichts. Viele Menschen stehen nicht im Telefonbuch. Vielleicht sind Sie und Ihre Familie außerdem die einzigen „Naskandys“ ungarischer Abstammung, auch wenn die wenigen Personen dieses Namens, die ich im Internet aufgespürt habe, allesamt aus Pakistan stammen. Solche Zufälle gibt es. Dass Google Sie in Ihrer Eigenschaft als Autorin nicht kennt, kommt mir so zwar merkwürdig vor, aber ich gestehe zu, dass es bei aller Unwahrscheinlichkeit nicht unmöglich ist, dass sich eine publizistisch tätige Person Google entziehen kann.

Was ich für Personen gelten lasse, muss ich für Bücher und schriftliche Publikationen jedoch verweigern. Ein ordnungsgemäß veröffentlichtes Buch, insbesondere aber  wissenschaftliche Veröffentlichungen lassen sich dank zentraler digitalisierter Kataloge in Sekundenschnelle ausfindig machen. Wenn keine National- oder Universitätsbibliothek der westlichen Welt über einen Eintrag zu einem „Jahresheft für Reflexive Psychiatrie“ verfügt, in dem Sie 2001 einen Aufsatz „Vom Einfluss der Lichttherapie in geschlossenen Anstalten“ veröffentlicht haben wollen, wenn ferner Google kein einziges Ergebnis zum Stichwort „reflexive Psychiatrie“ zutage fördert und ebenfalls von diesem Jahrbuch nichts weiß (wobei doch Akademiker sonst eher bestrebt sind, ein Publikum für ihre Werke zu finden), so ist der Schluss unumgänglich, dass es dieses Buch nicht gibt. Gleiches gilt für die „Architektur-und Fachzeitschriften“, auf die Sie in den Angaben zu Ihrer Vita etwas vage anspielen. Warum findet sich nirgends ein Inhaltsverzeichnis mit Ihrem Namen? Sollten etwa all diese Zeitschriften so rückständig sein, auf einen Internetauftritt zu verzichten? Bei aller Liebe zu Restzweifeln muss ich folgern: Eine Autorin namens „Tania Naskandy“ hat vor Sibiresch Eisebunn nichts veröffentlicht.

Ihre bio-bibliographische Notiz ist eine einzige Flunkerei. Wer aber sind Sie, wenn Sie „Tania Naskandy“ nicht sein können? Da hilft auch keine Versiertheit bei der Internetrecherche. Ich folge also Ihrem Rat und lese Sibiresch Eisebunn ganz genau. Mir fällt zunächst dieses Detail auf: Eine der sehr wenigen positiv gezeichneten Figuren heißt Freilinger. Auf der Stelle läuten bei mir sämtliche hermeneutische Alarmglocken: „Freilinger“ heißt ja auch die Hauptfigur aus Roger Manderscheids Roman Kasch, und diesen Freilinger darf man wenigstens ein Stück weit als Alter Ego seines Autors verstehen.

Ihr Freilinger ist ein pensionierter Eisenbahnbeamter, der im Rollstuhl sitzt und unter einem frühen Stadium von Alzheimer leidet. Roger Manderscheid teilt den früheren Beruf mit
Ihrer Figur. Der körperliche wie geistige Zerfall ist eines der Hauptthemen, wenn nicht das Hauptthema seiner zuletzt erschienen Bücher (zum Beispiel Opakalypse). Dabei spielt nicht
nur das Vergessen eine große Rolle, sondern auch das Gehen bzw. das Nicht-mehr-gehen-können, das über die körperliche Schwäche hinaus im übertragenen Sinn Schwierigkeiten
beim Begehen des „Lebenswegs“ anzeigt. Dass Ihr Freilinger eine so außerordentlich positive Rolle in einem sonst ziemlich düsteren Roman spielt, lässt mich vermuten, dass Sie nicht nur mit Roger Manderscheids Werk sehr vertraut, sondern ihm darüber hinaus auch als Mensch sehr zugetan sind.

Was Sie schlussendlich verrät, ist der Titel des Buches: Sibiresch Eisebunn. Die Reise mit dieser Eisenbahn wird in Ihrem Roman zu einer Art Metapher für den (unmöglichen)  Ausbruch aus einer deprimierenden und beengenden Existenz, zu einem Hoffnungsschimmer, den sich die Hauptfigur und Freilinger trotz aller Widrigkeiten erhalten. Das erinnert mich spontan an einen kleinen Text mit dem Titel Man wird alt. Er beginnt so: „Einmal wollten M. und R. mit dem Zug von Diekirch nach Kautenbach fahren. Aus Versehen erwischten
sie die transsibirische Eisenbahn.“ – „R.“ steht für den Autor dieses Textes, der in dem Buch Milde Memoiren abgedruckt ist. Der Autor hat seinem langjährigen Freund „M.“, nämlich Manderscheid, dieses Buch zum 75. Geburtstag geschrieben.

Rechnet man zu diesen Indizien noch die frappierenden thematischen und stilistischen Überschneidungen von Sibiresch Eisebunn mit dem Werk dieses Autors hinzu, bleibt aus meiner Sicht nur der Schluss übrig, dass Sie, liebe „Tania Naskandy“, in Wahrheit Ihr eigener Verleger sind und Guy Rewenig heißen.

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