Luxemburgensia

Doppelgänger von nebenan

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2017

„Ich könnte einfach die Geschichte meiner Nachbarn schreiben“, überlegt der mit sich selbst hadernde Malte Laurids Brigge in Rilkes gleichnamigem Roman. „Es wäre freilich mehr die Geschichte der Krankheitserscheinungen, die sie in mir erzeugt haben [...].“ – Ähnlich skeptisch verhält sich der Erzähler in Pol Greischs Tëscht Kaz a Kueder zu seinem Nachbarn. Er vermeidet Begegnungen, findet maue Ausreden, um sich vor längeren Gesprächen zu drücken, merkt sich noch nicht einmal den Namen. „Den Ënnerwee“ heißt für ihn der „Noper schif vis-à-vis“, der sich ihn, den Erzähler, als Zuhörer für seine wachsenden Sorgen und als Chronisten seiner Geschichte auserkoren hat. Eine seiner Nachbarinnen, die ihm mit ihren täglichen Singübungen auf die Nerven gehe, berichtet der ältere Herr wortreich, habe ihn gefragt, ob er eine Woche lang auf ihren Kater Maestro aufpassen könne, während sie in Urlaub fahre. So komme er nie dazu, seinen Master zu schreiben, den er gewissermaßen fertig im Kopf habe und zu dessen zügiger Niederschrift ihm bisher nur die nötige Ruhe fehle. Sein ehrgeiziges Vorhaben soll einen Satz aus Thomas Bernhards Kalkwerk widerlegen, wonach „in den Köpfen aller Menschen das Ungeheuerlichste sei, [...] auf ihren Papieren doch immer nur das Kläglichste, Lächerlichste, Erbärmliche“.

Die längste der Erzählungen in Greischs Buch zeichnet in verschiedenen Stufen das Misslingen des ambitionierten Projekts nach, ohne auszuführen, wovon die Masterarbeit überhaupt handeln soll. Der Leser kann leicht an das Ende des Buches gelangen, ohne diese Information zu vermissen. Greisch zeichnet die Figur als hoffnungsvoll, aber zum Scheitern verurteilt. Zum einen verfügt sie nicht über die nötigen Schul- und Uniabschlüsse, zum anderen scheint ihr gar kein wissenschaftlicher Text vorzuschweben. Darüber hinaus ist der Nachbar bereits angesichts der läppisch wirkenden Schwierigkeiten überfordert, mit denen die Geschichte beginnt. Seine Hilflosigkeit nimmt zu, je mehr seine Ambitionen erschwerenden Umständen ausgesetzt werden. Ein Arzt dämmt die Rastlosigkeit des „Ënnerwee“ mit dem Dekret ein, dass er sich öfter hinsetzen solle, die Nachbarin lässt ihn statt nur einer gleich mehrere Wochen mit ihrem Kater allein, die Unterstützung seiner Nächsten bricht weg oder erfolgt aus unlauteren Motiven, und er darf am Ende seinen Thomas Bernhard, der ihm zu einer Art Glaubenstext geworden ist, nicht einmal mehr lesen. Das Schicksal des Nachbarn, das der Erzähler mit Hilfe eines Briefes und eines Tagebuchs nachverfolgt, erweist sich als eine Chronik des Niedergangs und der Nachbar als Bernhardscher „Untergeher“, der erfolglos gegen ein Scheitern anrennt, das ihn in seinem Wesen betrifft. Tëscht Kaz a Kueder soll der Titel seiner Masterarbeit lauten, zwischen Katze und Kater wohnt aber er selbst.

Während der Erzähler anfangs die Zuflucht seines Nachbarn zur Literatur als naiv und überzogen abtut, betrachtet er dessen Niedergang rückblickend mit Sympathie, nicht zuletzt, weil er sich in diesem Nachbarn wiedererkennt. Klug platziert Greisch bereits in einigen der kürzeren Texte des Bandes Hinweise auf die Ähnlichkeit zwischen Erzähler und Nachbar („Am Fong kéint ech hie sinn. Oder hien ech...“), die so weit geht, dass sie als Figuren austauschbar werden. Motive der Ähnlichkeit und des Doppelgängertums durchziehen das ganze Buch und insbesondere die titelgebende Geschichte vom „Ënnerwee“. So wie eine Katze einem Kater ähnlich sieht, so ähneln sich die Nachbarinnen Maus und Maisy sowie die Namen von Leser (Bernard) und Autor (Bernhard) des Kalkwerks. Während einige dieser Ähnlichkeiten im Nirgendwo münden (wenn zum Beispiel der Master „für die Katz’“ ist, weil Bernard einen Kater namens „Maestro“ hüten muss), berühren andere Substanzielles, etwa die Frage der Ähnlichkeit von Figur und Erzählinstanz beziehungsweise von Autor und Erzähler.

Trotz verspielter Zwischentöne bleibt die Grundtonart des Buches ernst. Der in den Geschichten wiederkehrende Erzähler wirkt einsam und isoliert; er bezeichnet sich als „onglécklechen Noper“, als einen, der sich zwar aus der Distanz heraus für seine Mitmenschen interessiert, sich aber vom Umgang mit ihnen fernhält. Diese Zurückhaltung ist typisch für die Figurenzeichnung in diesem Buch, das gerade deswegen berührt, weil es die Einsamkeit seiner Figuren nur diskret andeutet.

Das schlichte und präzise Luxemburgisch von Pol Greisch ist auf einer dem Buch beigefügten CD auch zu hören, wunderbar gelesen vom Autor selbst (und an dieser Stelle gern der Mehrzahl der Luxemburger Radio- und Fernsehsprecher zur Nachahmung empfohlen).

Pol Greisch: Tëscht Kaz a Kueder. Geschichten. 131 S. Éditions Guy Binsfeld,
Lëtzebuerg 2017. ISBN 978-99959-42-18-2

Elise Schmit
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