Theater

Hinter der Schutzwand

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2017

Am 1. Juli verabschiedete sich das Kasemattentheater um Marc Limpach in die Sommerpause. Freunde des Theaters an der Rue des Puits waren zu einem Dankeschön mit belegten Broten, Wein und Bier, zum Plausch, zum gemeinsamen Rückblick auf eine vielfältige Saison eingeladen. Dass dieses Abschlussfest auch journalistisch berücksichtigt wird, ist hingegen auf zwei Auftritte zurückzuführen, die das Kasemattentheater vor dem letzten Vorhang der Saison 2016/17 zum Besten gab: Eine Lesung aus Jupp Gudenburgs Memoiren aus dem Untergrund sowie Jens Bluhms Inszenierung von Thomas Melles Ich, Ännie mit Anouk Wagener.

Die Sprachgewalt des Romanciers, Dramatikers und Übersetzers Thomas Melle (1975) ist offensichtlich. Darstellerin und Regisseur haben die Stimmen der Hinterbliebenen Anne Wilkes überarbeitet. Sind es die Weggefährten einer Verschwundenen, Untergetauchten oder gar Verstorbenen? Niemand weiß das so genau. Die Lehrerin liefert ihre Eindrücke, blickt auf Annie, Anne oder Änni als Schülerin zurück. Die alkoholkranke Mutter erinnert sich verschwommen. Von der Ziehmutter bis hin zum ersten Geschlechtspartner fügen sich Zeugnis-Splitter zu einem Ganzen. Am Ende weiß man alles und nichts. Man weiß, was man wissen kann. Nicht mehr. Vor allem aber weiß niemand, wo Ännie denn steckt, lebt, liegt, getötet wurde: „Seh ich nach Antwort aus? (...) Versuchen Sie nicht, mich nachzuvollziehen.“

Unter dem Eindruck von Mozarts Requiem und eingespielten Sequenzer-Klängen schafft es Anouk Wagener, die unterschiedlichsten Facetten ihrer Figuren zu formen. Sie mimt sie alle selbst, aus eigener Perspektive. Nebst Requisitenträger dient ein aufgespanntes Laken mit tiefschwarzem Loch als Kulisse. Es scheint jenen Moment wiederzugeben, in dem sie sich in Luft auflöst. Das Loch, das sie hinterlässt, ist jedoch eines, das gleichsam mit einer Fülle an Erinnerungen und Mutmaßungen über ihr Schicksal gestopft wird. In dieser einen Stunde wird dem Publikum des Abschlussfests kein greifbares Porträt geschildert. Melle liefert mit der Titelfigur vielmehr eine Projektionsfläche vielfältiger Emotionalität für jene, deren Wege sich zeitlebens mit der Unauffindbaren gekreuzt haben: „Vergib dieser armen Seele, Herr; und wenn ich das sage, so weiß ich nicht, ob ich Anne meine – oder mich, oder uns alle. Vergib der armen Seele. Vergib.“ Wagener verkörpert ihre Rollen dabei mit großer Spielfreude und körperlicher Hingabe. Mit Ich, Ännie ist Bluhm eine schrille, lexikalisch spritzige und kurzweilige Bühnenarbeit gelungen.

Nach einer halbstündigen Unterbrechung fand der Abend mit der bereits erwähnten Lesung aus Gudenburgs Memoiren ein Ende. Der ebenfalls anwesende Regisseur Claude Lahr setzte dem Gourmang und Gourmet 2015 ein stilles, aber fragwürdiges, dokumentarisches Denkmal im Rahmen der RTL-Reihe Routwäissgro. Das Gestöhne dieses zu Völlerei und Einsamkeit, vor allem aber zu einem radikal gesundheitsschädlichen Lebenswandel neigenden „Jupp“ zum Thema eines Dokumentarfilms zu erhöhen, bei dem die Titelfigur kommentarlos beim Einkaufen, Kochen, genüsslichen Stöhnen, Essen, Stöhnen und Posten des Gekauften und Verschlungenen begleitet wird, verstört. Eben dieses Minetter Urgestein fand nun als Autobiograf seine Bühne, in Marc Limpach und Desirée Nosbusch seine starken Vorleser. Handelte es sich beim Erzähler um eine fiktive Figur, so ließe der Inhalt sich als Klamauk abtun. Slapstick und der zeitweilige Humor einer Lausbuben-Kindheit – vorgelesen werden die Jahre von null bis 18 Jahren – sollten jedoch nicht leichtfertig hingenommen werden.

Gudenburg möchte sich hinter Pointen verstecken, doch der Text entlarvt den Klassenclown. In aller Konsequenz werden die Versuche eines Kindes wiedergegeben, sich jeder Lebensplanung, jeden Lebensernstes zu widersetzen. Tragend ist sicher der Umstand, dass hier jemand die Kunst des Kochens erlernt hat, weil die alkoholkranke Mutter zur Verpflegung ihres Nachwuchses nicht in der Lage war. In zahlreichen anderen Momenten jedoch wird deutlich, wie sehr der Autor sich jedem Verantwortungsgefühl, etwa bei der Annahme neuer Arbeitsstellen, widersetzte und dies bisweilen zum Jux banalisiert wird. So klingt eine Bemerkung wie Hohn in den Ohren anderer: „Jo jo, den Numm Gudenburg ass duergang, da war én näischt.“ Hinter der zweifelhaften Verniedlichung einer Reihe an Jugendstreichen offenbart sich letztlich die Biografie eines zutiefst sensiblen, suchenden und einsamen Menschen. Das Kasemattentheater schafft es nur zum Teil, Gudenburg als das zu präsentieren, was er als Medienprodukt darstellt: Thema, nicht Autor. Als Autor liefert er ein Bubenabenteuer. Als Figur liefert er Tragik, zwischen den Zeilen. So ist zu hoffen, was hier keineswegs als rhetorische Frage verstanden werden darf: Ist sich der Autor beider Ebenen bewusst?

Ich, Ännie nach Thomas Melle; eine Produktion des Kasemattentheaters; Regie von Jens Bluhm; mit Anouk Wagener. Derzeit keine weiteren Vorstellungen angekündigt. / Memoiren aus dem Untergrund von Joseph Maria Gudenburg; Lesung mit Desirée Nosbusch und Marc Limpach.

Claude Reiles
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