Die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 erhärten empirisch den Verdacht, weshalb hierzulande so leidenschaftlich über den Sprachgebrauch gestritten wird

Vom Kopf auf die Füße

d'Lëtzebuerger Land du 06.05.2016

Um mit der CSV einen Kompromiss über die Reform der Nationalitätengesetzes zu schließen, macht die Regierung Zugeständnisse bei der Voraussetzung von Sprachkenntnissen zum Erlangen der Staatsangehörigkeit. In der Referendumsdebatte über das legislative Ausländerwahlrecht kämpften CSV, CGFP, ADR und noch rechtere Vereine für nichts leidenschaftlicher als für den rechten Sprachgebrauch. Wenn ausgerechnet der Sprachgebrauch solch gnadenlose Auseinandersetzungen provoziert, hat dies vielleicht noch eine tiefere Ursache als die stets angeführte Verteidigung der natio­nalen Identität?

Eine Antwort auf diese Frage können die Ergebnisse der Volkszählung von 2011 liefern. Denn erstmals in einer Volkszählung waren zwei aus der Schweizer Volkszählung von 2000 übernommene Fragen zum Sprachgebrauch gestellt worden. Mehr als eine halbe Million Befragte mussten die Sprache nennen, in der sie dachten und die sie am besten beherrschten, und sie mussten die Sprachen nennen, deren sie sich zu Hause und am Arbeitsplatz beziehungsweise in der Schule bedienten. Die Ergebnisse bereiteten ­Fernand Fehlen und Andreas Heinz nun für ihr Buch Die Luxemburger Mehrsprachigkeit. Ergebnisse einer Volkszählung auf (Transcript-Verlag, Bielefeld). Dabei errechneten sie unter anderem die interessanten Wechselbeziehungen zwischen dem Sprachgebrauch und dem Beruf der Befragten.

So erkannten die Autoren, wie der „Vergleich der Sprachenprofile zeigt, dass sich der Sprachgebrauch beim Führungspersonal, den Verwaltungsangestellten und den wissenschaftlich technischen Angestellten klar von dem der manuellen und Handwerksberufe absetzt, wobei die unterschiedliche Gewichtung des Englischen und des Portugiesischen das Haupt­unterscheidungsmerkmal ist“ (S. 73). Der Sprachgebrauch zeigt deutliche Unterschiede je nach Beruf und damit auch sozialer Stellung. Dabei ist das oft als Verkehrssprache benutzte Französisch in fast allen Berufsgruppen „stark präsent, im Gegensatz zu den anderen Sprachen, die zumeist sehr unterschiedlich in den Hauptgruppen vertreten sind. Besonders häufig wird Französisch in den Dienstleistungsberufen (77 %) gesprochen, gefolgt von den Führungskräften (76 %) und den Hilfsarbeitern (75 %). Diese drei Hauptgruppen gehören zu allen drei Skill-Levels“ (S. 72), also Qualifikationsniveaus.

Das Luxemburgische ist die zweithäufigste Sprache am Arbeitsplatz, doch ist sein Gebrauch je nach Beruf sehr uneinheitlich: „Luxemburgisch hat seine Hochburgen in folgenden Branchen, in denen über 80 % der Beschäftigten es üblicherweise sprechen: Energieversorgung (96 %); Öffentliche Verwaltung, Armee und Sozialversicherungen (95 %); Land- und Forstwirtschaft (90 %); Gesundheits- und Sozial­wesen (85 %); Wasserversorgung, Abwasser- und Abfallentsorgung und Beseitigung von Umweltverschmutzungen (84 %), Erziehung und Unterricht (83 %). Am wenigsten wird Luxemburgisch in folgenden Branchen gesprochen: Baugewerbe (32 %); Gastgewerbe/Beherbergung und Gastronomie (30 %); private Haushalte mit Hauspersonal (14 %); Exterritoriale Organisationen und Körperschaften (9 %). Damit wird Luxemburgisch vor allem in Branchen gesprochen, in denen nur wenige Geringqualifizierte arbeiten“ (S. 68). Das Luxemburgische ist demnach die Sprache der Beamten sowie Angestellten und einer Arbeiteraristokratie im Öffentlichen und „assimilierten“ Dienst, eines Teils des Neuen Kleinbürgertums von unproduktiven Lohnabhängigen und der Bauern, weniger der Arbeiterklasse oder des Großbürgertums.

Anders die Arbeiter in der Privatwirtschaft: „Branchen, in denen viele Geringqualifizierte arbeiten, sind größtenteils Hochburgen des Portugiesischen, das in folgenden Wirtschaftszweigen von über 20 % der Beschäftigten gesprochen wird: Baugewerbe (54 %); sonstige wirtschaftliche Dienstleistungen (38 %); Bergbau und Gewinnung von Steinen und Erden (27 %); Gastgewerbe/Beherbergung und Gastronomie (27 %); private Haushalte mit Hauspersonal (24 %). Des Weiteren ist Portugiesisch überdurchschnittlich vertreten in: Handel, Instandhaltung und Reparatur von Kraftfahrzeigen (19 %) und verarbeitendes Gewerbe/Herstellung von Waren (17 %)“ (S.  8). Damit ist das Portugiesische vor allem die Sprache von Arbeitern und Handwerkern.

Wie präzise der Sprachgebrauch nicht nationale Identität, sondern das Einkommensniveau widerspiegelt, illustriert das Beispiel von Bauarbeitern: „Besonders frappierend ist der Unterschied zwischen den unter der Ägide der öffentlichen Hand Straßen und Brücken bauenden Hilfskräfte im Tiefbau und den unter marktwirtschaftlichem Vorzeichen Gebäude und Wohnhäuser errichtenden Hilfskräften des Hochbaus. Die einen benutzen zu 85 % Luxemburgisch und 12 % Portugiesisch, die anderen 69 % Portugiesisch und 14 % Luxemburgisch.“ (S. 116)

Deutsch wird dagegen vor allem von Vertretern des Neuen Kleibürgertums und bis in die Mittlere Bourgeoisie reichenden Intellektuellen gesprochen: „Die dritte Sprache Deutsch hat ihre Hochburgen in den Büroberufen (50 %), bei den Technikern (47 %) und den Akademikern (42 %). Am wenigsten wird es von den Hilfsarbeitskräften gebraucht. Es wird hauptsächlich auf den höchsten und mittleren Skill-Levels gebraucht“ (S. 72). Dagegen bedient sich die Mittlere Bourgeoisie vor allem des Englischen: „Noch stärker an die berufliche Hierarchie gebunden ist das Englische, das am meisten von den Führungskräften (58 %) und den Akademikern (52 %) und am wenigsten von den Hilfskräften (4 %) und den Landwirten (3 %) gesprochen wird“ (S. 72).

Schlussfolgernd stellen die Autoren fest: „Die Korrespondenzanalyse zu den Berufen und Branchen hebt somit eine besondere Eigenschaft der Gesellschaft Luxemburgs hervor: Die einzelnen Nationalitäten sind sehr ungleich in den verschiedenen Branchen und Berufen vertreten. In anderen Auswertungen der Volkszählung wurde bereits gezeigt, dass verschiedene Nationalitäten zum Beispiel große Unterschiede in der Formalbildung aufweisen. Von den Belgiern haben 62,2 % einen Meisterbrief oder einen Hochschulabschluss und fallen damit in die Kategorie mit der höchsten Formalbildung, von den Franzosen sind es 56,2 %, von den Deutschen 47,5 %, von den Luxemburgern 23,7 % und von den Portugiesen 4,8 %“ (S. 176).

Selbstverständlich vermittelt die Volkszählung nur ein ungenaues Bild der Luxemburger Gesellschaft. Denn ihre Kategorien beschränken sich einerseits weitgehend auf Einkommen aus Erwerbsarbeit, blenden also die Spitze der Gesellschaft aus, Leute, die von ihrem Vermögen leben, und die ausländischen Kapitalbesitzer, die den größten Teil der Industrie und des Finanzplatzes kontrollieren. Andererseits übergeht die Volkszählung jene 40 Prozent der französisch oder deutsch sprechenden Grenzpendler, deren Wohnsitz außerhalb des Landes liegt und die einen großen Teil der Arbeiterklasse darstellen, aber auch dem Neuen Kleinbürgertum bis hin zur Mittleren Bourgeoisie angehören.

Doch trotz dieser Unzulänglichkeiten erhärtet die Volkszählung mit empirischen Mitteln den Verdacht, dass der Sprachgebrauch von der Stellung in der sozialen Hierarchie abhängt. Die ständig diskutierte Mehrsprachigkeit spiegelte dann nur die weniger gern diskutierten sozialen Unterschiede wider. Das hieße, dass all die Einheimischen, Eingewanderten, Grenzpendler, Sprachschützer, Multikulti-Folkloristen, Schulreformer, Reformgegner, Sprachforscher und Verteidiger von nationalen Identitäten in Wirklichkeit um ihren Rang in der auch nach Sprache gestaffelten Gesellschaft kämpfen. Wenn die einen mit dem Luxemburgischen eingewanderte Arbeiterkinder vom Arbeitsmarkt für Mittelschichtskinder fernhalten, die anderen das Französische zur universellen Landessprache erklären und wiederum andere das Englische als Soziolekt der wirtschaftlichen Eliten durchsetzen wollen, geht es ihnen um die Festigung ihrer sozia­len Position. Unter dem Vorwand des Sprachgebrauchs wollen sie andere Klassen und Schichten am sozialen Aufstieg hindern und den eigenen oder den sozialen Abstieg ihrer Kinder verhindern. Hinter der Verteidigung der Identität von Vaterland und Muttersprache verbergen sich dann sozia­le Abgrenzungs- und Aufstiegsversuche.

Und wenn Premierminister Xavier Bettel vergangene Woche am Ende der Debatten über die Lage der Nation vor dem Parlament meinte: „Es wurde noch nie so viel Luxemburgisch gesprochen, wie im Augenblick. [...] Aber es wurde von etwas nicht gesprochen. Das ist aber auch eine Zahl, die bekannt wurde: dass 64 Prozent unser jungen Portugiesen kein Abiturexamen packen“, dann hat das vielleicht nicht viel mit der Sprache zu tun, sondern mit dem in den Pisa-Studien hervorgehobenen Umstand, dass die Schule darauf bedacht ist, nur einen sehr beschränkten Prozentsatz von Arbeiterkindern den Aufstieg aus ihrer Schul- und Gesellschaftsklasse zu erlauben.

Romain Hilgert
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