Der russische Ultranationalismus kann als „politische Religion“ aufgefasst werden.
Beeinflusst dieser ideologische Überbau russischsprachige Gemeinschaften in Luxemburg?

Heilsgeschichte aus dem Osten

d'Lëtzebuerger Land du 15.04.2022

Der „Glaube an Gott“ wird seit 2020 als tausendjähriges Erbe Russlands in der Verfassung aufgeführt. Glaubt Putin an Gott? Ihm wurde 2007 die Frage in einem Interview mit dem Time Magazine gestellt, nachdem dieses ihn zur person of the year gewählt hatte. Putin bleibt diskret: Es gebe Dinge, an die er glaube, aber die einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt werden sollten, weil diese missverständlich als Eigenwerbung aufgefasst werden könnten. In dem Buch First Person, einem von Journalisten verfassten Selbstporträt von Wladimir Putin, geht er an einer einzigen Stelle auf seinen Glauben ein. 1993 reiste er als Stadtrat-Mitglied von Leningrad nach Israel: „Mutter gab mir mein Taufkreuz, damit ich es am Grab des Herrn segnen lassen konnte. Ich tat, was sie mir gesagt hatte, und hängte mir dann das Kreuz um den Hals. Seitdem trage ich es“, erwähnt Putin.

Der russische Soziologe Nikolaï Mitrokhine vermutet, dass die Zurschaustellung des orthodoxen Glaubens zuvorderst performativer Natur sei. Aus Kirchenkreisen hieße es, der russische Präsident „sei nicht besonders orthodox“, wie der Soziologe gegenüber Le Monde behauptete. Wahrscheinlich rekurriert der ehemalige KGB-Offizier je nach Kontext auf unterschiedliche Erzählungen und Symbole. Trotzdem ist ein ausgeprägtes messianisches Russlandverständnis dem Kreml-Kader inhärent.

Gegenüber dem Land erläutert Reinhard Schulze, emeritierter Professor für Islamwissenschaft an der Universität Bern, das derzeitige Kriegsagieren sei von einem „Ultranationalismus“ unterfüttert, den er als „jenseits der Ordnung einer liberalen Demokratie stehend“ charakterisiert. Die Nation würde dabei „als ein natürlich gewachsener Volkskörper überhöht“, der aus einer als „amoralisch und dekadent erachteten Welt befreit“ werden soll. Der Ultranationalismus würde die Nation zu einem Mythus verklären und könne deswegen als „politische Religion“ gefasst werden.

Putin liest Schriften, in denen national-geschichtliche Vorstellungen mit einer spirituellen Mission vermengt werden. So empfiehlt der russische Präsident Parteikadern unter anderem die Lektüre von Wladimir Solowjow (1853–1900), einem Philosophen, der die Idee eines christlichen Staates verteidigte. Der Philosoph Michel Eltchaninoff, der Dans la tête de Vladimir Poutine (2015) verfasst hat, meint, in gewisser Weise verstehe sich Putin als Bastion gegen eine westliche Verrohung, indem er unter anderem das orthodoxe Christentum valorisiert.

Als weitere ideologisch-spirituelle, jedoch offiziöse, Kreml-Referenz gilt der Politologe Alexander Dugin. Öffentlich bekennt sich Putin nicht zu dem Rechtsradikalen. Doch Putins und Dugins Wortlaut und Vision kreuzen sich häufig. Dugin beschrieb bereits in den 1990-ern die Ukraine als bedeutungsloser Staat, der ein großes Hindernis für das eurasische Imperium-Projekt sei; er träumt von einem eurasischen Großreich, das von Dublin bis Wladiwostok reicht und in dessen Zentrum Russland herrscht. In Kurzkommentaren teilt Medwedew Anfang April in Telegram-Gruppen die gleiche Vision, wie Reinhard Schulze festgestellt hat, der derzeit die Geschehen täglich beobachtet. Benjamin Teitelbaum von der Universität Colorado und Kenner der neofaschistischen Szene beschreibt Dugin als eine Person, die ein anti-modernes esoterisches Weltbild vertritt. Insbesondere lehne er sich an den italienischen Faschisten Julius Evola an, der okkulte, antisemitische Verschwörungserzählungen und anti-demokratische Positionen vertrat.

Den Norden beschreibt der rechtsradikale Dugin „als Ursprung von bedeuteten Menschen und Kulturen“, wie der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn schreibt, der die mythologischen Kategorien analysierte, in denen Dugin Geopolitik denkt. Der Westen sei der Ursprung von „Dekadenz und Täuschung“, während der Osten der „Ursprung ewiger Weisheit“ repräsentiere. Russland sei eine „Nation kosmischer Dimension“, die sich in einem Endkampf gegen das „Reich der Antichristen“ befinde. Die muslimische Minderheit Russlands integriert er in sein Modell, indem er diese den orthodoxen Russen als nahestehend beschreibt – anders als jene Europäer, die den Liberalismus vertreten. Alliierte sind für ihn jedoch die EU-skeptischen Parteien in Europa, die (vermeintlich) gegen die Vorherrschaft der USA und die globalisierte Elite antreten, wie die aktuelle Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen. Sie bekannte sich zuletzt diese Woche zu Russland, als sie die Krim-Annektierung durch Russland verteidigte.

Inwiefern Putin ebenfalls den Krieg in mythologisch-religiösen Kategorien betrachtet, ist umstritten. Zwar rechtfertigt der russische Präsident die Invasion der Ukraine auch damit, dass die Ukraine Teil des spirituellen Raumes Russlands sei. Aber der Begriff Spiritualität (doukhovnost), wie ihn Wladimir Putin verwendet, umfasst moralisch-kulturelle Vorstellungen und nicht unbedingt religiöse, wie die Forscherin Kathy Rousselet in einem Essay über sozioreligiöse Veränderungen im postsowjetischen Russland einschätzt. Es geht ihm zuvorderst darum, die Identität Russlands zu konsolidieren. Dazu passt ebenfalls, dass sich Putin gerne als eingeweihten Historiker präsentiert, der die Herkunft des russischen Volkes verstehe und zugleich wie ein Prophet die Zukunft durchblickt. Seit Jahren unterrichtet er Emmanuel Macron über angebliches Archivmaterial, von dem nur er Kenntnis habe.

Als die ukrainisch-orthodoxe Kirche vor vier Jahren autokephal wurde und sich von Russland löste, kam es darüber hinaus zu einer Annäherung zwischen dem Kreml und der orthodoxen Kirche. Bis 2018 stellte sich der russische Patriarch Kirill nicht öffentlich hinter Putin, da der ukrainische Zweig der orthodoxen Kirche unter seiner Schirmherrschaft stand und er stattdessen auf einen friedensstiftenden Anspruch seiner Kirche verwies. Nun verteidigt der Patriarch bereitwillig eine spirituelle Lesart der Ukraine-Invasion: Er sprach von einem metaphysischen Krieg zwischen dem dekadenten Westen und dem kulturell überlegenen Russland. Insbesondere teilt Kirill mit Putin eine ausgeprägte Phobie gegenüber Homosexualität. Für Putin ist sie ein uneindeutiges Zeichen des Sittenverfalls; Kirill seinerseits behauptet, mit Leuten die Gay-Prides veranstalten, sei nicht zu reden. Unter anderem deshalb soll man Michel Eltchaninoff zufolge diesen Krieg zuvorderst als kulturellen Wertekonflikt betrachten.

Für die Forscherin, Inna Ganschow, an der Universität Luxemburg ist es naheliegend, dass Putin „womöglich die Frage nach seiner eigenen Legitimität quält“, weil er für seine „Macht nie in einer offenen Debatte kämpfen oder eine richtige Wahlkampagne betreiben musste“. Deshalb sei ein Rekurs auf die Kirche attraktiv: Die russisch-orthodoxe Kirche ermöglicht es ihm laut Bibel (Römer 13:1-2) seine Macht göttlich zu überhöhen. So erhalte er „eine höhere Berufung“; er ist der Auserwählte, wie Ganschow darlegt. Aber nicht unbedingt um Wirtschaftswachstum oder Armutsbekämpfung anzugehen, sondern größere Ziele, wie die Weltordnung neu zu bestimmen.

Radio 100,7 berichtet Mitte März, die russisch-orthodoxe Kirche auf Limpertsberg, wolle sich aus politischen Angelegenheiten heraushalten. Pastor Georges Machtalère wolle einen Raum bieten, in der seine Gemeinde für den Frieden betet; seine Gottesdienste werden von Ukrainern, Belarussen, Georgiern, Moldawiern und Äthiopiern besucht. Eine Kennerin der Gemeinde bestätigt auf Nachfrage, dass die Kirche apolitisch sei und den russischen Ultranationalismus nicht aufgreift. Vergangenen Montag habe sich die Gemeinschaft im Gottesdienst vor der Ikone der wandernden wundersamen „Theotokos von Kursk“ versammelt, um den „leidenden Völker der Ukraine und Russlands“ zu gedenken. Letzte Woche behauptete der Escher Rabbiner Alexander Grodensky in einem Land-Interview, er kenne in der jüdischen Gemeinde in Luxemburg niemanden, der ohne kritischen Blick russisches Fernsehen schauen würde. Die russischsprachigen Auswanderer und Auswanderinnen (in Luxemburg ist das Verhältnis von Männern und Frauen 1 zu 3) aus dem postsowjetischen Raum haben überdies freiwillig ihre Heimat verlassen und sie sind zu 75 Prozent nicht mit Personen ihres Herkunftslandes verheiratet, was sie eher gegenüber Ultranationalismus immunisiert, erläutert Inna Ganschow.

Anders sieht es beim Russischem Zentrum für Wissenschaft und Kultur (Russki dom) aus. Russki dom ist eine Struktur des Russischen Außenministeriums, dessen Angebot von Moskau vorformuliert ist: Die Ausstellungen, Künstler und Filmvorführungen sind Teil der Staatslinie und nur auf die Landsleute im Ausland und Russland-Interessierte ausgerichtet, wie die Migrationsforscherin Inna Ganschow ausführt. Als weitere Sympathisanten der Kreml-Führung und dessen Feindbilder-Schablonen, ist die Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek zu nennen. Sie bringt derzeit jeden Tag Beiträge, in denen sie die „russophobe Welle“ beklagt, die über Europa hereinbrach und tut die Sanktionen als Hetze ab. Lawrow wird zitiert, der behauptet, der Westen habe aus der Ukraine einen „Brückenkopf zur endgültigen Niederschlagung Rußlands und zur Unterwerfung Rußlands unter das vom Western aufgebaute globale System gemacht“. In einem weiteren Beitrag wird geäußert, die Folterungen von Butscha seien von Engländern durchgeführt worden.

Es scheint einen Graben zu geben zwischen kremlaffinen Russen, die offen sind für die ideologischen Erzählungen aus Moskau und Russischsprachigen, die diese politischen Mythen kaum aufnehmen. Das Gleiche gilt vermutlich für die Soldaten in der Ukraine. Die BBC-Journalistin Olga Ivshina hat die Profile von über 1 000 russischen Soldaten durchsichtet: Überwiegend stammen diese aus von Moskau vernachlässigten Regionen mit hohen Arbeitslosenquoten wie Burjatien. Womöglich haben sich die jungen Männer eher wegen dem Gehalt der Armee angeschlossen, nicht wegen dem eschatologischen Selbstverständnis wie es die Kremlkader definieren.

Allerdings bauscht sich der russische Ultranationalismus immer stärker auf und sickert im Zuge des Krieges womöglich in die breitere russische Gesellschaft hinein. Wie beispielsweise über das unlängst veröffentlichte Handbuch zum Völkermord gegen die Ukraine. Darin werden Nazis als Ukrainer bezeichnet, die eine Affinität zur ukrainischen Kultur oder zur Europäischen Union aufweisen und hierfür büßen sollen: Diese Ukrainer sollen getötet oder in Arbeitslagern umerzogen werden. Der Historiker Timothy Snyder schreibt in der NZZ: „Das russische Handbuch ist eines der offensten völkermörderischen Dokumente, die mir jemals unter die Augen gekommen sind.“

Die Frage stellt sich, wo eigentlich die Trennlinie zwischen religiös motivierten Terrorakten und dem militärischen Angriff von Ultranationalisten verläuft. Laut Reinhard Schulze lassen sich ähnliche Muster feststellen: Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass „einzelne sich als Handlungsträger und Vollstrecker eines religiösen göttlichen Willens verstehen und dabei eine Gegnerschaft definieren, die sie als Feind Gottes begreifen“. Religiös motivierte Terroristen fühlten sich berechtigt, Vergeltung zu üben, weil sie „unter anderem in einer amoralischen Lebensführung und in dekadenten weltlichen Kulturen“ ein Verbrechen an Gottes Ordnung sehen würden. Beim russischen Ultranationalismus ginge es allerdings weniger um eine göttliche Ordnung, sondern zuvorderst um eine national-geschichtliche. Und ähnlich wie auch bei ultrareligiösen Gruppierungen sei entscheidend, „dass es sich dabei um einen Denkstil und eine Erkenntnisordnung handelt, bei der Symbolik, kollektives Wir-Erlebnis, Sprache und gemeinsam erlebte Feindbilder eine überaus wichtige, religiös anmutende Rolle spielen“.

Posthum erschien der Band Relire le relié (2019) von dem Philosophen Michel Serres, in dem er der Etymologie von Religion als „das, was bindet“ nachgeht. Religion beschreibt er als Operator innerhalb eines metaphysischen Systems, der verschiedene Konfigurationen des sozialen Lebens ermöglicht. Diese können wohlwollend (das „Heilige“), oder gewalttätig (das „Sakrale“) sein. Im russischen Ultranationalismus offenbart sich eine bestimmte Konfiguration des sozialen Lebens.

Stéphanie Majerus
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