Psychiatriereform

Frühling erst im Herbst

d'Lëtzebuerger Land du 10.08.2006

Absicht oder Zufall, auf jeden Fall aber symbolträchtig. Als der Staatsrat Anfang Juli sein Gutachten zum Gesetzentwurf Nr. 5490 über die psychiatrische Zwangseinweisung vorlegte, war es beinahe auf den Tag genau ein Jahr her, dass Gesundheitsminister Mars di Bartolomeo die Studie des Züricher Experten Wulf Rössler zur Luxemburger Psychiatrie veröffentlicht und somit ein weiteres Kapitel in der Psychiatriereform aufgeschlagen hatte. Neben der Dezentralisierung und Etablierung regionaler Akutstrukturen für psychisch Notleidende war die Reform der Zwangseinweisung erklärtes Ziel des LSAP-Politikers.

Mittlerweile ist der 2001 im Spitalplan vorgesehene Aufbau der vier psychiatrischen Akutabteilungen zu einem Großteil geschehen (siehe d'Land vom 1. Juli 2005), ein neues Gesetz soll nun die Einweisungsprozedur an die geänderten Rahmenbedingungen anpassen. Bislang durfte nur die Direktion einer geschlossenen psychiatrischen Einrichtung darüber entscheiden, ob ein Mensch mit akuten psychischen Störungen auch gegen seinen Willen eingeliefert werden konnte; künftig soll es der Leiter beziehungsweise der Dienst habende Arzt des "psychiatrischen Dienstes" eines Krankenhauses sein. Damit wird formaljuristisch nachvollzogen, was länger schon Realität ist: Anstelle des neuro-psychiatrischen Krankenhaus in Ettelbrück CHNP, das seit Juli vergangenen Jahres keine Akutpatienten mehr aufnimmt, sind vier Allgemeinkrankenhäuser für die psychiatrische Erstversorgung zuständig.

Auch der Anwendungsbereich des alten Unterbringungsgesetzes soll geändert werden. Konnten bisher Bürgermeister, Polizei und Staatsanwaltschaft eine Einweisung gegen den Willen des Betreffenden verlangen, wenn diese die öffentliche Ordnung und Sicherheit störten, so soll dies nur noch möglich sein, wenn von der betreffenden Person eine "erhebliche Gefahr gegen Personen oder Sachen" ausgeht. Der Fokus auf die Krankheit des Patienten soll den veralteten Schutz- und Sicherheitsgedanken ablösen. Nicht Sanktion des abweichenden Verhaltens, sondern "Reintegration in das natürliche Umfeld" lautet die neue Maxime.

Das klingt gut und ganz im Sinne einer Psychiatrie, die die Bedürfnisse des Patienten in den Mittelpunkt stellt; bloß sind die Autoren dafür nicht konsequent genug gewesen: Dass der Bürgermeister weiterhin einweisen darf, hat weniger mit dem Patientenwohl zu tun als vielmehr damit, Störenfriede in der Gemeinde zur Ruhe bringen zu können. Da es sowieso fast immer die Polizei ist, die den Betreffenden ins nächst gelegene Krankenhaus fährt, ist der antiquierte "Bürgermeister- Bonus" überflüssig.

Ein großer Wurf ist der Text ohnehin nicht. Wesentliche Elemente einer an Menschenrechtsprinzipien orientierten offenen Psychiatrie fehlen. Richter behalten beispielsweise vorerst ihre Aufgabe der Nachkontrolle; an der Entscheidung zur Einweisung sind sie nicht beteiligt. Weil die Zwangsunterbringung aber immer einen schwerwiegenden Eingriff in individuelle Persönlichkeitsrechte darstellt, hatte der Europarat in Straßburg vor zwei Jahren genau diese richterliche Beteiligung empfohlen; in vielen EU-Ländern ist sie längst die Regel. Luxemburg will dies nun mit einem weiteren, für Ende des Jahres geplanten Gesetzesprojekt nachholen. Meinungsverschiedenheiten zwischen Gesundheitsministerium und Psychiatern auf der einen und Richtern auf der anderen Seite haben eine frühere Einigung bislang verhindert. Auch die kritische Prüfung der bestehenden Bestimmungen über psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie die Fixierung und Isolierung im Hinblick auf die Grundrechte, wie sie Patientevertriedung wiederholt gefordert hat, ist bisher nicht erfolgt. Lieber vertagte man die offenen Fragen. Patientenrechte, so schien es, konnten warten.

Wie unangebracht und unklug das permanente Aufschieben ist, sollte sich aber schon bald darauf zeigen. Ende Februar legte die Menschenrechtskommission ihr Gutachten über die Grundrechte von Patienten in psychiatrischer Behandlung vor. Außer einem kurzen Lob für die bisher geleistete Dezentralisierung fiel das Urteil denkbar schlecht aus: Grundrechte von Patienten würden nicht gewahrt, so die Kommission, die eine raschere Umsetzung der Psychiatriereform anmahnte. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Menschenrechtschützer den Zwangsmaßnahmen im CHNP. Deren Dokumentation und Kontrolle seien oft ungenügend, es fehle an klaren Bestimmungen und Prozeduren.

Damit nicht genug. Wenige Wochen später, Anfang Mai, veröffentlichte die Revue einen Artikel mit fast demselben Tenor. Das Wochenmagazin prangerte jahrelange gravierende Menschenrechtsverletzungen in Luxemburgs Psychiatrie an und erhob schwere Vorwürfe gegen das medizinische Personal im CHNP. Pfleger sollen systematisch Patienten gequält haben, Kranke seien ohne fachliche Aufsicht stundenlang ans Bett gefesselt worden. Selbst gegen die 1998 gesetzlich verbriefte Entscheidungsfreiheit von Patienten, ungewünschte Medikamente verweigern zu können, soll in Ettelbrück laut Revue verstoßen worden sein - mit traumatischen Folgen für die Betroffenen.

Das Dementi folgte prompt. Ein erboster Minister verlangte eine Gegendarstellung, in der er dem Revue-Journalisten vorwarf, nicht ordentlich recherchiert und vergangene, und inzwischen behobene, Missstände in die Gegenwart versetzt zu haben. Auch am Bericht der Menschenrechtskommission ließ der Minister kaum ein gutes Haar. Das dort gezeichnete Bild sei überholt, die Reform "voll im Gange", wurde di Bartolomeo nicht müde in Funk und Fernsehen zu betonen.

Die Aufregung des ehemaligen Journalisten hat nur teilweise etwas mit Kritik an journalistischer Ungenauigkeit oder Furcht vor weiteren Imageschäden zu tun. Es hat Monate, sogar Jahre gebraucht, um die heillos zerstrittenen Akteure aus CHNP, Akutspitälern und außerklinischen Strukuren an den Verhandlungstisch zu bringen. Wenn der Minister und seine Beamten heute das "hervorragende" und "konstruktive Klima" in den seit vergangenen Herbst eingesetzten Arbeitsgruppen loben, dann vor allem, um das frisch gewonnene Vertrauen nicht wieder zu verlieren - und das Fortkommen der überfälligen Reformen nicht zu gefährden.

Entgegen der offiziellen Darstellung steht diese nämlich keineswegs auf unverrückbar sicheren Beinen. In seiner Antwort auf die parlamentarische Anfrage des grünen Abgeordneten Jean Huss vom 2. Juni hat di Bartolomeo zwar Schritte genannt, die in nächster Zukunft bei der psychiatrischen Versorgung geplant seien. Dazu zählen der Aufbau von Tageskliniken für Erwachsene neben dem Escher Krankenhaus im Süden des Landes, sowie, ans CHL angegliedert, in der Hauptstadt. Eine weitere Tagesklinik für Jugendliche mit psychischen Problemen soll auf dem Kirchberg entstehen.

Darüber hinaus seien der Aufbau eines psychosozialen Zentrums im Norden und der Ausbau betreuter Wohnstrukturen vorgesehen. Als einen "großen Erfolg" wertet Roger Consbrück, im Ministerium zuständig für die Umsetzung des Spitalplans und wichtigster Mann bei der Planung der Psychiatrieagenda, in diesem Zusammenhang das Verhandlungsergebnis zwischen Staat und Krankenkassen. Ab 1. Januar 2008 wird die Krankenversicherung die Kosten für die außerstationären Angebote wie Réseau Psy, Liewen dobaussen übernehmen.

Auch wenn die Einigung über die Finanzierungsfrage der Reformvorhaben zweifellos von großer Bedeutung ist; so neu, wie Consbruck im Gespräch mit dem Land gerne glauben machen will, ist die Erfolgsmeldung nicht: Der Gesundheitsminister hatte gegenüber der Wochenzeitung Woxx im November 2005 das stärkere Engagement der Krankenkassen außerhalb des Spitalbereichs bereits als "Durchbruch" gefeiert. Eines immerhin hat die Rössler-Studie also bewirkt: Der Druck auf die Verantwortlichen, endlich Nägel mit Köpfen zu machen, ist enorm gewachsen.

Auf einen anderen, für das Gelingen der Reform wesentlichen Teilschritt muss wohl trotzdem eine Weile gewartet werden. Das CHNP, aufgrund seiner Größe laut Wulf Rössler einer der "Kernbereiche" der Luxemburger Psychiatrie, scheint auch weiterhin Sorgenkind zu bleiben. Zwar läuft die Suche nach belastbaren Entwicklungsszenarien für den einstigen Monopolisten in Sachen Psychiatrie in den entsprechenden Arbeitsgruppen auf Hochtouren, doch noch ist kein definitives Konzept in Sicht, welche Funktionen das Ettelbrücker Zentrum in der neuen psychiatrischen Versorgungslandschaft übernehmen soll.

Bemerkenswerter Weise ist es zudem nicht der Vorschlag des Züricher Experten, der von Beamten und Psychiatern hinter verschlossenen Türen diskutiert wird. Rössler hatte eine Aufteilung des CHNP in fünf Fachzentren mit unterschiedlichen Spezialisierungen - Früherkennung, Sozial- und Gemeindepsychiatrie, Alterspsychiatrie und Forensik - empfohlen. Nun ist die Rede davon, im CHNP eine geschlossene Abteilung für im Schrassiger Gefängnis fehlplatzierte Jugendliche einzurichten. Aber zum einen fehlt hierfür das fachliche Know-how, zum anderen wirft die Unterbringung im CHNP ernsthafte Fragen auf. Jugendrichter dürfen verhaltensgestörte delinquente Jugendliche zu ihrem Schutz in geschlossenen Einrichtungen unterbringen, zu einer Therapie zwangsweise verpflichten können sie sie nicht, das wäre aus therapeutischer Sicht auch nicht sinnvoll. Erklärungsbedürftig ist zudem, warum ausgerechnet Jugendliche, die ihr Leben und hoffentlich die Reintegration in die Gesellschaft noch vor sich haben, nach Ettelbrück kommen sollen - wenn doch Entstigmatisierung erklärtes Ziel der Reform sein soll.

Eine andere Initiative sieht vor, unter Führung des CHNP die betreuten regionalen Wohnstrukturen und die ambulanten Dienste auszubauen. Das könnte helfen, den Mangel an außerstationären psychiatrischen Angeboten im Norden zu beheben. Offen ist aber, ob die anderen Anbieter derartiger Dienste dem zustimmen. In der Vergangenheit hatten sie die Bestrebungen des CHNP, sein Angebot in diesem Bereich auszudehnen, stets argwöhnisch beäugt, aus Angst vor übermächtiger Konkurrenz. Es sei denkbar, so ist nun von den Verantwortlichen zu hören, Psychiater aus einem vergrößerten Angebot künftig den Leistungsanbieter wählen zu lassen, der ihnen am meisten zusagt beziehungsweise die beste Qualität liefert. Nebeneffekt: So ließe sich, auf indirektem Wege, ein neues Kräfteverhältnis im Sektor etablieren.

Von all diesen Überlegungen, die in den kommenden Wochen sicherlich noch für Diskussionen sorgen dürften, bekommt der Normalbürger, und somit der potenzielle Patient, kaum etwas mit. Welche Wahlmöglichkeiten wird es geben, um einen auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse bestmöglich abgestimmtes Angebot zu finden? Inwieweit werden Patienten hier überhaupt ein Mitspracherecht bekommen?

Allen Beteuerungen zum Trotz, den Umstrukturierungsprozess so offen und transparent wie möglich zu gestalten, sind die Vertreter der Krankenhäuser, die Ministerialbeamten und die Psychiater bisher unter sich geblieben. An der "alten Abschottung" habe sich auch unter einem LSAP-Gesundheitsminister nicht viel geändert, bemängelt René Pizzaferri von der Patientevertriedung die obskuren Praktiken; immerhin: der Verein sitzt bei der Reform der Zwangseinweisung mit am Tisch.

Den Vorwurf mangelnder Transparenz lässt Parteikollege Mars di Bartolomeo nicht gelten. Man werde die öffentliche Debatte starten, "sobald konkrete Konzepte vorliegen", sagte er dem Land. Zur diesjährigen Gesundheitskonferenz im November soll der Aktionsplan Psychiatriereform vorliegen. Die internen Beratungen über die Zwangsunterbringung sollen im Herbst, spätestens im Winter, abgeschlossen sein. Dann wird sich zeigen, ob die Verantwortlichen auch wirklich jene "ausgezeichnete Arbeit" geleistet haben, die der Minister in der Presse so gerne betont - die bislang, außer den Eingeweihten, aber niemand zu überprüfen vermag.

Ines Kurschat
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