Es ist ein strahlender, warmer Sommermorgen in Mutfort. Lächelnd empfängt uns Vassili, Schnurrbart und buschige Augenbrauen, vor dem Haus, das er und seine Frau Tatiana seit nunmehr dreieinhalb Jahren bewohnen, und führt uns gleich, einen Stock fest in der Hand, in den schattigen, ruhig gelegenen Seitengarten, wo seine Frau und er Blumen und Gemüse anpflanzen. Stolz zeigt uns Vassili, wie dort seine „Agurtschik“ (Gurken) gen Himmel wachsen, während er über das Handy in seiner Hemdtasche ukrainische Nachrichten hört. Vor einem kleinen, aber üppigen Wald von Tomaten entlang der Seitenfassade zieht seine Frau unter abgeschnittenen Wasserbehältern behutsam Jungpflanzen heran. Etwas weiter wächst Dill in einem Topf. Im hinteren Garten hat Vassili aus Holzbalken sorgfältig zwei Hochbeete gezimmert.
Da erscheint Tatiana auf der Terrasse. Für den Fototermin hat sie eigens ein himbeerfarbenes, leuchtendes Sakko angezogen. Die selbstbewusste, resolute Seniorin stammt ursprünglich aus Sibirien, wo sie ihren späteren Ehemann in der Abendschule von Omsk kennenlernte. Damals arbeitete sie dort als Laborantin, während er, der tagsüber als Dreher in der Fabrik sein Geld verdiente, dort seinen Schulabschluss nachholte, um später Wirtschaft zu studieren. Nach Omsk kam Vassili als Kind, zusammen mit seiner Mutter. Hier traf sie auf seinen Vater, den Stalin ins sibirische Exil deportiert hatte. Nunmehr war er aus der Lagerhaft entlassen worden, durfte jedoch Russland nicht verlassen. Später wurde der Vater vollständig rehabilitiert. Auch Tatiana sollte studieren und arbeitete später als Physik- und Mathematik-Lehrerin. „Wir alle hatten damals einen großen Wissensdurst und wollten unbedingt studieren“, erinnert sie sich. Als beide ihr Diplom erhielten, waren sie bereits junge Eltern.
Vassili hält sich mit einem Arm am Terrassengeländer fest. Seit einer Corona-Infektion hat er Atembeschwerden. Eine genaue Diagnose fehlt. An die medizinische Betreuung in Luxemburg, an die langen Wartezeiten und den Ärztemangel müssen sich die beiden noch gewöhnen. Und ans Wetter. Das sei in ihrer ukrainischen Heimat stets besser gewesen, meint Tatiana. Eigentlich war das auch der entscheidende Faktor, warum die beiden damals aus Omsk wegzogen, Mitte der 70-er Jahre. „Mir war stets kalt in Omsk, und Kiew hatte ich durch eine frühere Reise in guter Erinnerung“, sagt Tatiana.
Die eigene Wohnung hat man dafür kurzerhand gegen eine andere getauscht. Das ging in der Sowjetunion – vorausgesetzt, die Wohnung war staatlich, und man fand jemanden, der bereit war, sie gegen die eigene Wohnung einzutauschen. „Man ging in die Tauschagentur, dort lag ein dickes Buch mit allen zum Tausch angebotenen Wohnungen, und man suchte sich eine aus.“ Teilweise standen die Menschen Schlange; teilweise sind über diesen Weg regelrechte Tauschringe entstanden – so auch in Vassili und Tatianas Fall. Fündig wurden sie nämlich in Dnepropetrowsk (wie Dnepr früher hieß) da von dort ein Hausbewohner nach Bachtschyssaraj auf der Krim, und von Bachtschyssaraj jemand nach Sumy, und aus Sumy jemand nach Omsk habe umziehen wollen. Das alles ohne Internet, erzählt Vassili amüsiert, während er seine Hände auf den Stock legt und lächelt.
Existenzängste oder gar Sorgen habe man damals eigentlich keine verspürt. Und auch Arbeit gab es überall, sagt Tatiana. Trotzdem hege sie keine Nostalgie für diese Jahre. „Damals waren alle in der Partei und auch ich war Kommunist, da man nur als Mitglied beruflich aufsteigen konnte“, erzählt Vassili, der sich noch gut an die montäglichen Politstunden in der Fabrik erinnert, an den vorsichtigen Optimismus und daran, dass alle in die Hände klatschten, als Gorbatschow im Fernsehen zu ihnen sprach. Als die Inflation durch die Decke ging und die Lebensmittel rationiert wurden, wurde Vassili erfinderisch. „Nebst Lebensmitteln standen einem monatlich zwei Flaschen Wodka und zwei Päckchen Zigaretten zu. Da ich selbst aber weder trank noch rauchte, tauschte ich beides gegen Baumaterial für meine Garage.“
Als die Sowjetunion bereits Geschichte war und sie das erste Mal ihre ukrainischen Pässe in den Händen hielten, hätten sie dabei nichts Besonderes verspürt. An so etwas wie Nationalstolz dachte man nicht. Auf Kiew, von wo aus man ab jetzt regiert wurde, blickte man zuversichtlich. Und auch nach Russland sei man weiterhin regelmäßig gefahren. Zwar habe man die Grenzkontrollen mit Befremden wahrgenommen – einmal seien ihnen sogar die russischen Zollbeamten zu den Verwandten nach Hause gefolgt, meint Tatiana, aber man blieb Nachbarn.
Zu Sowjetzeiten hätten sich alle Teilrepubliken in gegenseitiger Abhängigkeit befunden, meint Vassili, der seine Parteikarte noch zu Hause in der Schublade aufbewahrt: „Das Volk ist stets eins gewesen. Bloß die Politik sei auf einmal in die falsche Richtung gegangen.“ Ohne Nato-Osterweiterung und mit einer klugen Sprach- und Religionspolitik wäre es gar nicht erst zum Krieg gekommen, ist sich Vassili sicher. 2013 standen einer Umfrage zufolge noch 70 Prozent einem NATO-Beitritt ablehnend gegenüber, erinnert er sich. Im Übrigen hätte es früher eigentlich kaum einen Anreiz gegeben, Ukrainisch zu lernen: „Sehen sie, ich bin ja selbst russischsprachig aufgewachsen; mein Ukrainisch habe ich über die Jahre verlernt – und es wird mich ja wohl keiner zwingen mich jetzt noch umzustellen.“ In den Jahren, als sie zusammen in die Ukraine zogen, hätten sowohl Ukrainisch als auch Russisch auf dem Schulplan gestanden. Irgendwann sei Ukrainisch aber nur noch Wahlfach gewesen, erinnert sich Tatiana.
Die spätere bewusste Förderung der ukrainischen Sprache nach der Unabhängigkeit der Ukraine veränderte die Wahrnehmung: Russischsprachige erschienen zunehmend als Minderheit. „Ich denke, das war ein großer Fehler und deswegen kann der Kreml heute behaupten, dass in der Ukraine viele Russen lebten, die man befreien müsste“, sagt Tatiana. „Im Übrigen gibt es ja noch andere Länder, in denen russischsprachige Menschen leben. Wer weiß, vielleicht geht Putin ja weiter und wird diese auch noch angreifen?“
Tatiana hat jedenfalls schon 2014 den Kontakt zu ihrer Schwester in Russland abgebrochen, da diese wie viele lieber an das glaubt, was im Fernsehen erzählt wird. „Es ist mir schleierhaft, wie ein Mensch sich derart zombifizieren kann. Und dabei ist sie ja nicht irgendeine Babuschka, die in einem abgelegenen Dorf ohne Verbindung zur Welt lebt – sie ist eine hochgebildete Person!“, entrüstet sich Tatiana.
Als Russland schließlich im Februar 2022 in die Ukraine einfiel, saß der Schock tief. Am 11. März schlugen drei Raketen in Dnepr ein. Tags darauf entschlossen sich Tatiana und Vassili zur Flucht. „Unsere Tochter hat schon länger darauf bestanden, dass wir das Land verlassen, aber es fiel uns schwer“, gibt Tatiana zu bedenken. Im Bahnhof von Dnepr standen bereits fünf Züge, in denen Flüchtlinge wie in „Konservendosen“ aufeinander gequetscht saßen, erinnert sich Vassili. Ihre Koffer seien weggeschmissen worden – dafür war kein Platz. Nur kleines Gepäck war erlaubt. Um gegen die klirrende Kälte in jenem März anzukämpfen, zündeten die Menschen Feuer im Bahnhof an, um sich während der Warterei aufzuwärmen.
Schließlich brachte sie ein Zug in die Westukraine. Für die kurze Fahrt von Lwiw bis nach Polen habe ihr Zug die ganze Nacht gebraucht, derart viele Menschen seien an der Grenze versammelt gewesen. Die Zöllner waren hoffnungslos überfordert. Manche waren kopfüber aus den Kriegsgebieten geflüchtet und trugen überhaupt keine Dokumente bei sich. Gerührt erinnert sich Vassili an die Freiwilligen in Polen, die sie nach Überquerung der Grenze mit „Vareniki“ (eigentlich polnische Piroggen) fütterten – ihre erste Mahlzeit, seit sie Dnepr verlassen hatten.
Von dort ging es mit Transporten über Berlin quer durch Deutschland bis nach Belgien. Überall halfen Freiwillige ihnen bei der Orientierung. Der Transport war gratis. Schließlich kamen sie in Luxemburg an, wo sie drei Monate in einem Auffanglager verbrachten, bevor eine etwa gleichaltrige Frau aus Mutfort die beiden schließlich bei sich zuhause aufnahm.
An Luxemburg gefällt ihnen, dass hier so viele Nationalitäten an einem Ort zusammenlebten. Bloß das mit der Verständigung sei manchmal schwierig, meint Vassili. „Dafür gibt es doch Google Translate“, meint dazu Tatiana, die auch eine Zeit lang als Programmiererin gearbeitet hat, ihre ukrainische Pension übers Handy bezieht und sich wundert, dass man in Luxemburg noch so viel auf Papier setze.
Tatiana hat in dreieinhalb Jahren aus Samen ein sechsblättriges Magnolienbäumchen herangezogen. „Den nehme ich irgendwann wieder mit nach Hause in meine Datscha“, scherzt sie. Ein Bekannter hat ihnen Fotos von dort geschickt. „All unsere Sträucher sind vertrocknet, weil niemand sie pflegt. Es tut mir weh, das mitanzusehen“, seufzt Vassili.
Ein Nachbar aus Mutfort schenkte ihm einen alten Rasenmäher, der allerdings bereits nach kurzer Zeit den Geist aufgab. Vassili hat das Gerät erst in seine Einzelteile zerlegt und anschließend das defekte Teil „für 5 Euro auf Amazon bestellt“. Seitdem funktioniere er einwandfrei. Auch eine Heckenschere hat Vassili im Altwarenhandel auftreiben können. Diese hätte funktioniert, sich aber anschließend nicht mehr abstellen lassen. Aber auch die hat er schließlich repariert. Jetzt schneide er seine Hecken selbst. „Zolotie ruki“: Hände aus Gold, meint dazu Tatiana, die glücklich ist, dass die beiden in einem Haus mit Garten und nicht in einer Wohnung leben. Am liebsten würde Tatiana der Gemeinde Contern bei Gartenarbeiten helfen. Wenn sie an den begrünten Verkehrsinseln vorbeigehe, müsse sie sich immer zusammenreißen, um nicht selbst das Unkraut herauszureißen.
In der Sowjetunion gab es den Subbotnik (wörtlich Samstagsarbeit): freiwillige, im Bewusstsein gesellschaftlicher Notwendigkeit erbrachte, unentgeltliche Arbeit. „Zum Beispiel am 22. April an Lenins Geburtstag“, wie sich Vassili erinnert. „In Sibirien war es zu jener Jahreszeit noch kalt, und wir haben die Bürgersteige mit Eispickel befreit.“
Das Leben in Luxemburg möge man, auch die Nachbarn seien freundlich. Es fehle an nichts, bloß irgendwann nach Hause fahren, davon träumen sie schon. Dass bei dem russisch-amerikanischen Gipfeltreffen in Alaska nicht viel herauskommen konnte, darüber war man sich in Mutfort bereits im Vorfeld im Klaren. „Wahrscheinlich haben die beiden sich nur darauf verständigt, was Putin bekommt und was Trump“, meint Tatiana resigniert. Damals, als die Ukraine unabhängig wurde, habe ihr Land im Rahmen des Budapester Memorandum sein Atomwaffenarsenal an Russland übergeben und dort zerstören lassen, weiß Tatiana noch genau. Jetzt verlange Russland Sicherheitsgarantien. Tatiana findet das „absurd“.
Aber auch von Selenskyj ist Tatiana enttäuscht. „Ich habe ihn gewählt, aber ein zweites Mal werde ich ihn nicht wählen“, meint sie. Als der Krieg begann, sei Kiew nicht ausreichend militärisch befestigt gewesen. Bürger hätten eigenhändig Barrikaden errichten müssen, um den Vormarsch der russischen Truppen zu verlangsamen. „Und dann die Korruption.“ Zwar laufe die heimische Waffenproduktion mittlerweile auf Hochtouren, aber nur weil ein erheblicher Teil dieser Produktion aus dem privaten Sektor komme, wie Tatiana weiß, deren Stadt Dnepr die sowjetische Rüstungs- und Raketenindustrie beherbergte. Gegen Russland zu kämpfen, davon raten die beiden dennoch ab. „Kämpfen auf keinen Fall; das würde zu einem globalen Krieg führen“, ist sich Vassili sicher. Aber bewaffnen müsse sich Europa – abschrecken, sagt Tatiana. „Man muss sich vorbereiten. Die EU hat derzeit keine Waffen mehr. Auch die Ukraine war 2022 nicht bereit, aber mit einem Nachbarn wie Russland muss man auf alles gefasst sein.“
Zum Abschied gibt es dann noch eine Tüte Tomaten aus eigener Ernte. Und man wünscht bei so viel Gastfreundschaft, dass die Götter auch in Zukunft ihre schützende Hand über diese ukrainische Version von Philemon und Baucis halten mögen.