Seit zwei Wochen ist die Gesundheitsreform in Kraft, und so lange sollte eigentlich auch schon der tiers payant social funktionieren. Tut er aber nicht, und das könnte noch eine Weile so bleiben

Schwergeburt

d'Lëtzebuerger Land du 13.01.2011

An einem Vormittag dieser Woche im Sozialamt von Luxemburg-Stadt: Es herrscht Hochbetrieb, die Sitzplätze im Wartezimmer reichen längst nicht mehr aus. Die Besucher stehen auch auf den Treppen Schlange, und wenn Neuankömmlinge fragen, wer der Letzte sei, erhalten sie von den schon länger Wartenden nicht immer freundlich Auskunft.

Ob der Andrang wohl damit zu tun hat, dass bei den Sozialämtern nun auch der tiers payant social beantragt werden kann? Seitdem am Neujahrstag das Rahmengesetz zur Gesundheitsreform in Kraft trat, müssen die Ämter ein Attest ausstellen, auf welches hin die Gesundheitskasse CNS die Bezahlung von Gesundheits­leistungen direkt übernimmt. Eine ­krankenversicherte Person „en cas d’indigence“ braucht dann die Leistungen eines Arztes, eines Physiotherapeuten, gleich welchen Dienstleisters, der mit der CNS konventioniert ist, nicht vorab zu bezahlen.

Doch im Sozialamt der Hauptstadt werden noch keine Berechtigungen für den tiers payant social ausgestellt. Amtsleiterin Christiane Even ist ganz ehrlich: „Ich wüsste gar nicht, wie.“ Das ist keine Schande, denn in der Abteilung Solidarität im Familienministerium, die für die Organisation der Sozialhilfe zuständig ist, weiß man das ebenfalls noch nicht. Zu einer Abstimmung über das neue Instrument ist es bislang zwischen So-zial- und Familienministerium noch nicht gekommen. Weshalb noch in keinem Sozialamt des Landes attestiert wird, was eigentlich seit 14 Tagen attestiert werden müsste.

Was wiederum noch kein Sozialskandal ist. „Wer sich in einer finanziellen Notlage befindet, kann seine Arztrechnung bei uns zur Bezahlung einreichen wie bisher“, wird vom Sozialamt der Gemeinde Düdelingen völlig zu Recht bemerkt. Ganz abgesehen davon, dass in solchen Situationen auch bei der CNS ein Scheck beantragt werden kann. Wenn es also nur eine Frage der Zeit ist, bis der tiers payant social funktioniert, weil in den vergangenen Monaten um die Gesundheitsreform viele Schlachten zu schlagen waren und am Ende alles ganz schnell gehen musste, scheint inzwischen ausreichend vorgesorgt, könnte man meinen.

Doch die neue Regelung soll den betreffenden Personen nicht nur den Gang mit ihrer Rechnung zum So-zialamt oder zur CNS ersparen. Dass jemand, der sich in finanzieller Not befindet, einen Antrag auf Kosten-übernahme stellen kann, setzt voraus, dass der Arzt, der Therapeut dem Betreffenden vertraut und ihn mit seiner Rechnung erst einmal ziehen lässt. „Das tun nicht alle“, sagt Karin Manderscheid, die Präsidentin von EAPN Lëtzebuerg, der Luxem­burger Sektion des European Anti-Poverty Network. Nicht zuletzt deshalb tritt die Organisation schon seit einigen Jahren für den tiers payant social ein. Um Härtefälle auszuschließen, wäre es wünschenswert, dass der neue Baustein im System möglichst schnell aktiviert wird.

Leider aber gibt es dazu mehr offene Fragen, als man denken könnte angesichts des eigentlich einfach klingenden Prinzips: „Die Sozialämter erkennen einmal zu, die CNS bezahlt anschließend immer“. Ob diese Fragen rasch zu beantworten sein werden, muss sich noch zeigen.

Da wäre zunächst zu klären, was unter einem „cas d’indigence“ zu verstehen sein soll. Das bleibt den So-zialämtern überlassen. Eine landesweit einheitliche Definition werde es wohl nicht geben, eher Richtlinien, heißt es aus dem Familienministerium dazu, und das ist wohl auch gut so: Nicht einmal jedem RMG-Empfänger muss die Bezahlung von Gesundheits-Rechnungen ein Problem bereiten. Vielleicht aber einem ganz ordentlich in Lohn und Brot Stehenden, der sich überschuldet hat. Oder vielleicht allein erziehenden Eltern.

Und es sieht so aus, als nähmen zeitweilig andauernde soziale Notlagen zu, worauf die Statistiken der kommunalen Sozialämter hindeuten. In Ettelbrück etwa wurden im Jahr 2007 in 196 Fällen zeitweilige Hilfen gewährt, im Jahr 2009 in 326 Fällen. Da scheint es angebracht, dass der tiers payant social zeitlich begrenzt zuerkannt wird. Dummerweise steht das nicht im Gesetz, und wer weiß, ob das durch eine Richtlinie des Familienministeriums an die Sozialämter festgelegt werden kann, oder das Gesetz geändert werden muss. Ganz abgesehen davon, dass die Sozialämter gegenwärtig mit ihrer Reorganisation beschäftigt sind, die ihre Zahl auf 30 senken und interkommunale Ämter schaffen soll, die für mindestens 6 000 Bürger zuständig sind.

Aber das ist nicht alles. Jean-Marie Feider, der Präsident der CNS, nennt den tiers payant social ein „schwieriges Dossier“. Vier Wochen nach Verabschiedung der Gesundheitsreform durch die Abgeordnetenkammer lässt Feider durch den juristischen Dienst der Gesundheitskasse prüfen, ob die Bestimmungen zum tiers payant social zum Rest der Sozialgesetzgebung passen.

Denn im vor gut einem Jahr verabschiedeten Gesetz über die Reform der Sozialhilfe steht: „Si la personne dans le besoin n’est pas assurée autrement, l’office social prend en charge les risques de maladie, d’un handicap ou de sénescence, y compris l’aide médicale et l’hospitalisation.“

Die Ausführungsbestimmungen in einer großherzoglichen Verordnung vom 8.11.2010 legen fest, dass zu den Missionen eines Sozialamts unter anderem gehört: „assurer à titre d’avance ou de complément une aide financière ou matérielle, si les prestations fournies au titre de la législation luxembourgeoise ou étrangère ne couvrent pas en temps utile ou de manière suffisante les besoins constatés et retenus par l’enquête sociale et les données disponibles“.

Zu guter Letzt weist Feider darauf hin, dass das Krankenkassengesetz nichts an den „obligations légales (...) des offices sociaux de secourir les personnes nécessiteuses“ ändere. So schreibt es Artikel 81 des Sozialversicherungsgesetzbuchs vor, und es könne schon sein, meint Feider, der selber Jurist ist, dass bei der gegenwärtigen Rechtslage die Sozialämter die Rechnungen ihrer Klienten auch weiterhin begleichen müssten und die Gesundheitskasse die Kosten erst im Nachhinein erstatten könne.

Die Bedenken des CNS-Präsidenten klingen zunächst weit hergeholt. Denn selbst RMG-Bezieher sind so-zialversichert, und weshalb sollte für sie nicht ausreichend sein, was die CNS jedermann an Gesundheitsleistungen bezahlt?

Doch gerade das ist ein brisanter Punkt. Denn so, wie der tiers payant social in der Gesundheitsreform konzipiert wurde, läuft er darauf hinaus, dass die CNS lediglich den Kassenanteil an der Rechnung übernimmt. Die Eigenbeteiligungen an den Leistungen müsste auch ein Patient bezahlen, dem der tiers payant social zuerkannt wurde. Dabei sind die Eigenbeteiligungen zum 1. Januar teils kräftig gestiegen; an Arzt- und Zahnarztleistungen von zehn auf zwölf Prozent, für Physiotherapie auf 30 Prozent. Der vom Patienten zu zahlende Tagessatz bei einem stationären Klinikaufenthalt hat den prozentual größten Sprung gemacht und wurde von 12,96 Euro auf 19,44 Euro erhöht. Die Frage, ob sozial Schwache durch die CNS ausreichend versichert sind, ist damit keine rhtorische mehr.

Politisch ist es überdies nicht ausgeschlossen, dass die Eigenbeteiligun-gen sogar kurzfristig weiter steigen könnten: Da die Regierung im Dezember in der Bipartite mit dem Unternehmerdachverband UEL vereinbarte, dass bis 2014 die Sozialbeiträge für die Betriebe nicht steigen werden, und Sozialminister Mars Di Bartolomeo (LSAP) versprochen hat, dass dies für die Beiträge der Versicherten ebenfalls gelte, könnten Defizite in der Krankenversicherung in den kommenden Jahren nur durch Leistungsabbau oder höhere Eigenbeteiligungen ausgeglichen werden.

Die Eigenbeteiligungen werden für den tiers payant social aber noch aus einem anderen Grund zum Problem: Je höher sie werden, desto wahrscheinlicher wird es, dass ein Dienstleister einen Patienten selbst dann nicht mit seiner Rechnung erst einmal ziehen lassen könnte, wenn ihm der tiers payant social zuerkannt wurde. Das hat sich schon in den Diskussio-nen um die Gesundheitsreform ­abge-zeichnet, als der Ärzteverband AMMD verlangte, die CNS müsse dafür sorgen, dass der Arzt den Patientenanteil an der Rechnung auch tatsächlich erhält, und ihn notfalls eintreiben. Weil die Regierung darauf nicht einging, ist dieser Punkt „das einzige Problem, das wir mit dem tiers payant social noch haben“, sagt AMMD-Generalsekretär Claude Schummer. „Es ist ja die Kasse, die über die Höhe von Eigenbeteiligungen entscheidet, nicht der Arzt.“

Schummer will diese Haltung auf keinen Fall als unsozial verstanden wissen: Immerhin würden „wirklich sehr viele“ Mediziner bei finanziell schlechter gestellten Patienten auf die sofortige Bezahlung der Rechnung verzichten. „Sonst gehen diese Leute nicht mehr zum Arzt.“ Und die AMMD-Forderung gelte nicht für Zuschläge für convenances personnelles: „Mit denen hat die Kasse nichts zu tun, die legt der Arzt fest. Er kann sie einem schlecht gestellten Patien-ten auch erlassen.“ Aber falls der Eigenanteil an den Kassenleistungen bei einem Patienten mit tiers payant social verbliebe, könnte dem ein neues Stigma drohen, wo man doch dasjenige abschaffen will, das einem Menschen in finanzieller Not durch den Gang zum Sozialamt entsteht: „Dann könnte ein Arzt Patienten mit tiers payant social als die anzusehen beginnen, ,die mir nur 88 Prozent einbringen’.“

Der CNS-Präsident hat für die Bedenken der Ärzte Verständnis – und fürchtet, die Interessenvertreter der anderen zwölf mit der Kasse kon­ventionierten Dienstleisterverbände könnten ähnlich argumentieren. Dass die CNS sich um die Eintreibung des Patientenanteils kümmern könnte, ist für ihn allerdings schwer vorstellbar: „Der Verwaltungsaufwand wäre riesig, und es fragt sich, auf welchem Wege wir an das Geld kommen sollen.“

Was tun? Claude Schummer erinnert daran, dass die AMMD vor ein paar Jahren gemeinsam mit der Caritas vorgeschlagen hatte, einen öffentlichen Fonds einzurichten, aus dem die geschuldeten Eigenbeteiligungen sozial Schwacher bezahlt werden könnten. „Mars Di Bartolomeo war aber gegen diesen Fonds.“

Karin Manderscheid verweist darauf, dass das EAPN Lëtzebuerg eigentlich immer der Meinung gewesen sei, jemanden mit tiers payant social vom Patientenanteil an den Gesundheitsleistungen gänzlich zu befreien. Doch weil das darauf hinausliefe, Gratismedzin für Wenige zu schaffen, müsste darüber wohl politisch entschieden werden und nicht allein durch die CNS.

All das würde Zeit kosten. Bliebe die Möglichkeit, dass entweder die So­zialämter die Rechnungen zunächst komplett bezahlen. Weil sie das ohnehin schon tun, wäre der tiers payant social damit begraben. Oder, die CNS zahlt zunächst ganz und verlangt den Patientenanteil von den Ämtern zurück. Vielleicht wäre das die einfachste Lösung. Vor einer Perspektive weiter steigender Eigenbeteiligungen der Krankenversicherten hieße das freilich steigende Kosten für die Gemeinden mit ihren Sozialämtern. Und für den Staat, der 50 Prozent des Defizits der Ämter trägt: Weil die Zahl der von Einkommensarmut ­Bedroh-ten steigt, wächst auch das ­Risiko, dass die sich öffnende soziale Schere in eine Mehr-Klassen-Medizin führt. Möglicherweise braucht Luxemburg über den tiers payant social hinaus eine Grundsatzdiskussion über Solidarität in der Gesundheitsversorgung.

Peter Feist
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