Arbeit, Leistung, Ordnung – Koordinaten, nach denen inisterin Stéphanie Obertin (DP) lebt. Ist die Quereinsteigerin damit in der Politik angekommen?

„Een uerdentlechen Kader“

Stéphanie Obertin
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 29.08.2025

Der Weg von Stéphanie Obertin in die Politik führte nicht an Xavier Bettel (DP) vorbei. 2018 kam der heutige Vizepremier und Außenminister auf die Allgemeinmedizinerin aus Bonnevoie zu und schlug ihr vor, mit seiner liberalen Partei in die Nationalwahlen zu ziehen. Er wollte das Personenarsenal erweitern, das sich für eine liberale Gesundheitspolitik einsetzt, erklärt Obertin an diesem Dienstag auf ihrem schwarzen Ledersessel im Digitalisierungsministerium. Welches Verhältnis pflegt sie zum DP-Kommunikatiounsbéischt (wie ihn Caroline Mart unlängst nannte)? „Mir kennen eis scho méi lang, loosse mer mol esou soen“, antwortet Obertin. Vom Ausgehen in der Jugend vielleicht? Ein knappes „Ja“ entweicht ihr.

Die damals noch völlig unbekannte Quereinsteigerin landete 2018 auf der DP-Liste im Zentrum auf Platz 17 (von 21); fünf Jahre später dann auf Platz elf. Die DP berief sie – wie schon 2018 – für die Koalitionsverhandlungen in die Arbeitsgruppe über Gesundheitspolitik. Nachdem die Gespräche abgeschlossen waren, reiste Obertin ins Atlasgebirge nach Marokko. Am 13. November klingelte das Telefon. Xavier Bettel, zu diesem Zeitpunkt Delegationsleiter der DP, war in der Leitung. Und bot Obertin das Amt der Ministerin für Digitalisierung und Hochschulwesen an. „Die Menschen, die in dem Moment um mich herum standen, haben mir später gesagt, ich sei ziemlich bleich geworden“, erzählte sie dem Wort vor zwei Jahren. Warum hat sie das Angebot angenommen? Die DP habe ihr Vertrauen geschenkt: „Mir mengen, datts de dat kanns a solls maachen“, habe die Partei ihr vermittelt. So ein Angebot bekomme man nur einmal im Leben, sagt sie.

Stéphanie Obertin wird als engagierte Ärztin beschrieben. Gemeinsam mit drei weiteren Hausärzten gründete sie in den Nullerjahren eine Gemeinschaftspraxis in Bonnevoie. Daneben übernahm sie Bereitschaftsdienste in maisons médicales sowie in Alten- und Pflegeheimen. „Es war nicht einfach, meine Patienten zu verlassen.“ Für sie war Ärztin sein mehr als nur ein Beruf. Aber sie sei Medizinerin geblieben: Sie lese weiterhin Fachzeitschriften und verfolge, was sich in ihrer früheren Berufssparte tut. Spricht man sie auf medizinpolitische Themen an, stellt man eine persönliche Überzeugung hinter ihren Worten fest. In Luxemburg gebe es doppelt so viele Fachärzte wie Allgemeinmediziner – ein Missverhältnis, das ihr zufolge die Absurdität des aktuellen Systems vorführt. Viele Patienten suchten direkt einen Spezialisten auf, statt zuerst ihren Hausarzt zu konsultieren. Dabei sei in vielen Fällen keine fachärztliche Intervention nötig. Würde die Rolle des Hausarztes gestärkt, wäre das Gesundheitssystem spürbar entlastet. Als Vertrauensperson garantiere er zudem eine Langzeitübersicht über den Gesundheitszustand seiner Patienten. Insgesamt, sagt Obertin, „brécht de System bëssen zesummen“.

Im Gespräch wird deutlich, dass nicht nur ihr Jugendfreund Xavier Bettel sie zur Politik gebracht hat, sondern ebenso ihr ärztlicher Werdegang. Die politischen Aspekte ihrer Arbeit im Cercle des Médecins Généralistes hätten sie schon früh interessiert – Missstände im Gesundheitssystem zu erkennen und Lösungen vorzuschlagen, sei ihr ein Anliegen gewesen. Kurz nachdem die Praxis in Bonnevoie etabliert war, trat sie dem Allgemeinmediziner-Verband bei. Von 2019 bis 2022 war sie dessen Präsidentin.

Deutlich weniger Melodie ist in ihrer Stimme zu hören, wenn sie über ihre Dossiers im Digitalisierungsministerium spricht. Oppositionspolitiker berichten gar, in den parlamentarischen Kommissionen sei sie zwar „ernsthaft bemüht“, zu erklären, welche Punkte ihr Ministerium voranbringen wolle – allerdings lese sie ihre Mitteilungen meist von einem Blatt ab. Sobald es technisch werde, verweise sie auf ihre Beamten. Gleichzeitig wird gemunkelt, Topbeamte führten das Ministerium mit fester Hand. Dass Stéphanie Obertin sich nicht öffentlichkeitswirksam mit ihren Dossiers positionieren kann, liegt auch daran, dass ihr Ministerium zwar „Digitalisierung“ im Namen trägt, sich in der Praxis jedoch weitgehend auf MyGuichet-Politik beschränkt. Staatsminister Luc Frieden (CSV) hingegen definiert die übergeordnete Datenökonomie-Strategie des Landes. Und hat KI-Projekte zur Chefsache erklärt: Er war es, der im Juni beim Nexus-Symposium vor den Kameras die Hand des Mistral-CEO Arthur Mersch schüttelte. Wirtschaftsminister Lex Delles übernimmt bei privatwirtschaftlichen Digital-Angelegenheiten die Führung; vor fünf Wochen trat er als Krisenmanager auf, als das Post-Netz mehrere Stunden lang gestört war. Nur über den Umweg ihres zweiten Ministeriums, der Forschung, gelangte Obertin zuletzt zu Tech-Zeilen in der Tagespresse – etwa im Juli, als sie an der Universität Tokio Gespräche über eine Zusammenarbeit im Bereich wissenschaftlicher Datenintegrationsprojekte führte.

Die liberale Politikerin ist niemand, die sich in den Vordergrund drängt. Auf ihrem Instagram-Kanal finden sich zahlreiche Fotos, auf denen sie nicht im Mittelpunkt steht: Während eines Besuchs des Forschungsinstituts Liser etwa steht sie neben einem händeschüttelnden Großherzog Henri. „Ech sinn net grad deen, dee gaer fotograféiert gëtt. Mee fotograféiert ginn, gehéiert och zu dëser Arbescht“, kommentierte sie am Dienstag. Als Land-Fotograf Sven Becker am Dienstag im Hinterhof ihres Ministeriums seine Kamera scharf stellte, riet ihre Pressesprecherin, die frühere RTL-Télé-Journalistin Violetta Caldarelli, der Ministerin, die Haare vor den Ohren hervorzufächern. In der Joffergässel überlegt man sich, wie die Ministerin nicht zu streng wirkt. Tatsächlich erscheint sie auf manchen Bildern unterkühlt. Wer sich jedoch mit ihr unterhält, stellt fest, dieser Eindruck trügt.

„Streng“, so aber beschreibt sie ihre Eltern zwischen den Zeilen. Aufgewachsen ist die heutige Politikerin zwischen Tellern, Weinflaschen, dreckigem und sauberem Geschirr: Ihre Eltern betrieben ein Restaurant in Luxemburg-Stadt und Moutfort. Als Kind habe sie oft „hannert dem Comptoir“ ausgeholfen. Aber auch „Nachtische vorbereitet, die Vorräte im Keller kontrolliert, gespült“. Von klein auf sei sie niemand gewesen, der Arbeit scheue. Zugleich sei sie aber auch verwéhnt gewesen und konnte viel Zeit draußen im Bambësch verbringen. Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester verbrachte sie die ersten Jahre der Sekundarschule im Internat des Fieldgen. Wie hat sie diese Zeit erlebt? „D'Internat huet een uerdentlechen Kader gesat, fir gutt duerch d'Schoul ze kommen“, so Obertin nüchertn. Anschließend absolvierte sie im Lycée Michel Rodange die B-Sektion, spezialisierte sich also auf Mathematik. Nebenher trainierte sie täglich auf dem Tennisplatz und nahm an Wochenenden an Turnieren teil. Erst als sie ihren Abschluss in der Tasche hatte, entschied sie Medizin zu studieren; zunächst in Luxemburg, später in Straßburg und Nancy. Persönliche Anekdoten erzählt sie im Verlauf des Gesprächs keine. Ihr Mitteilungsschema folgt den Kategorien Arbeit, Leistung, Ordnung.

Seit ihrer Regierungsbeteiligung 2013 setzte die DP neben Stéphanie Obertin auf zwei weitere Quereinsteiger. Pierre Gramegna leitete die Geschicke des Finanzministeriums von 2013 bis 2022, die Yuriko Backes übernahm, heutige Verteidigungs- und Transportministerin. Während Gramegna und Backes regelmäßig im Politmonitor in den Top Ten der beliebtesten Politiker erschienen, bildet Obertin das Schlusslicht unter den DP-Regierungsmitgliedern – sowohl in punkto Kompetenz als auch bei der Sympathiewertung. Vielleicht sind die Werte derart niedrig, weil sie nicht sichtbar ist, dem Wähler also nicht bekannt – und deshalb der Zuspruch ausbleibt. Eine Sichtbarkeit, die vielleicht deshalb fehlt, weil sie nur selten politische Aussagen trifft. Die DP-Rechnung Quereinsteiger durch ein Ministeramt an die politische Front zu bringen und so das Parteipersonal aufzustocken, scheint diesmal jedenfalls nicht aufzugehen.

Dass sie nichts vorzuweisen habe, wäre allerdings ein voreiliges Urteil. Im Sommer vergangenen Jahres stellte sie die Grundzüge eines Gesetzentwurfs zur Datennutzung im öffentlichen Dienst vor. Demnach sollen Once-Only-Verfahren für die Verwaltungen verpflichtend werden und so den Austausch zwischen Staat, Gemeinden und Bürgern vereinfachen. Im Juni teilte die Europäische Kommission mit, Luxemburg gelte mit seiner Strategie zur digitalen Transformation der öffentlichen Dienste als Vorreiter. Das kleine Land belege nun den zweiten Platz im eGovernment-Benchmark. Die Kammer der Staatsbeamten freut sich darüber scheinbar weniger. In ihrem Avis zum Gesetzentwurf äußert sie Befürchtungen hinsichtlich zusätzlicher Arbeitsbelastung und technischer Schwierigkeiten. Neben der Umsetzung ihres Gesetzesprojektes ist es Obertin „als Mediziner natierlech ganz wichteg, datt mer d’Medezinstudium opbauen – mir kënnen net ëmmer versichen, den Reservoir vun eisen Nopeschlänner auszeschöpfen.“

Stéphanie Majerus
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