All new people

Auf dem Rücken des Eichhörnchens

d'Lëtzebuerger Land du 29.04.2016

Gipsweiß, hohe Decke, Kronleuchter: Noch abgedunkelt schiebt der Mittdreißiger Charlie (Isaac Bush) einen Stuhl unter die Zierleuchte, schwingt eine Schlinge über das schaukelnde Gerüst, steckt seinen Kopf hinein und stürzt in die vermeintliche Erlösung. Immobilienmaklerin Emma trifft ein in der Wohnung auf Long Beach Island, gurgelt ein mehrfaches „Oh my God!“, besinnt sich, zerrt den Lebensmüden aus seinen Plänen, schreit weiter. Ein Kampfpilot entgeht seinem Lebensende.

Im Fortlauf der Handlung jedoch finden sich neben der Maklerin Emma (herrlich: Larisa Faber), die diese Wohnung vermieten möchte, auch noch die Sängerin Kim (Gintare Parulyte) sowie der Star der lokalen Feuerwehr Myron (Jules Werner) ein. Ein verbaler Austausch über Charlies Vorhaben und die biografischen Hintergründe jeder anwesenden Figur führt zu einer Szenenabfolge mit spritziger Situationskomik und originellen Dialogen. Dabei stellt sich heraus, dass die individuellen Lebensentwürfe, die das Quartett preisgibt, nichts anderes als Lügengebilde sind in einer Welt, in der die Erwartungen in den Himmel wachsen. Myron ist in Wahrheit ein ehemaliger Lehrer, dem aufgrund seiner Tätigkeit als Drogendealer gekündigt wurde. Kims Tätigkeit als Escort-Dame ist von Anfang an klar, betritt sie doch das Haus im Auftrag des Besitzers, um Charlies Geburtstag zu versüßen. Ihre Träume, Musik zu produzieren, erweisen sich fortwährend als groteske und doch liebenswürdig-dümmliche Hirngespinste ohne jede Substanz. Emma ihrerseits droht die Ausweisung nach England, da sie über keine Green Card verfügt und bei Entlassung die Staaten verlassen müsste. Am Ende jedoch wird ihre Geschichte noch stärker verdunkelt: Sie ist die Mörderin ihres vorzeitig entlassenen Vergewaltigers

Auch der lebensmüde Charlie offenbart den Grund für seinen Selbstmordversuch: Eines Tages beobachtet er als Fluglotse zwei Ameisen, die sich an einem Krümel zu schaffen machen. Was ihn so sehr ablenkt, dass dieses Detail sich zu einem katastrophalen Flugzeugabsturz hochschaukelt, der sechs Opfer fordert. Die Strafe – Charlie wird hundert Tage suspendiert – erscheint ihm so lächerlich, dass er sich mit dem Tod selbst geißeln möchte. Charlie fühlt sich so allein, dass er hinzufügt: „You know I didn’t write a suicide note … because I had no one to write to.“

Diese wahnwitzigen Gegenentwürfe von Sein und Schein einer Generation, die nach mehr greifen möchte, als sie greifen kann, zugleich aber auch zur Hysterie einer Drama-Queen neigt, setzen fünf Darsteller mit intensiver Spielfreude in Szene. Der mentale Stumpfsinn von Jules Werners und Gintare Parulytes Figuren, ja die körperliche Dynamik von Larisa Faber unterstützen die Wucht von Braffs Vorlage durchweg. Dazu kontrastiert Bush die Haltung und Mimik der zentralen Figur Charlie zwischen Verzweiflung und vorsichtigem Zynismus.

Anne Simon hat in diesem Sinne gerade auch in Zusammenarbeit mit Bühnenbildnerin Anouk Schiltz gute Arbeit geleistet. In regelmäßigen Abständen öffnen sich die Paneele der Holzwände, schieben sich Minirampen heraus, geradewegs in die Wohnung hinein. Der restliche Bühnenbereich wird abgedunkelt, die Darsteller halten dann für Sekunden inne. Ganz so, als erweise sich dieser Strandkubus als Seelenraum, als Identität der Protagonisten, offenbaren sich auf diesen Kleinbühnen die biografischen Hintergründe, werden Entwürfe als Lügengebilde entlarvt. Die Figuren entpuppen sich eben nicht als optimistische Lebensretter im Kreise um einen Lebensmüden, sondern als gebrochene, gescheiterte Akteure einer Generation Y: Was wir alle wollen? „Someone to love. And it’s such a fleeting thing top in all of our happiness on it, isn’t it? It’s like trying to build a house of cards on the back of a squirrel.“

All new people von Zach Braff beginnt als rabenschwarze Komödie, gewinnt jedoch zusehends an Ernsthaftigkeit, ohne dass dabei das komödiantische Potenzial je verloren geht. Die Produktion, für die aufgrund hoher Nachfrage immerhin ein Zusatztermin eingerichtet werden musste, ist ein voller Erfolg, weil schlagfertig, spritzig und dabei immer psychologisch vertieft. All new people beeindruckt schwer.

All new people von Zach Braff; eine Produktion der Théâtres de la Ville de Luxembourg; Regie von Anne Simon; Bühnenbild von Anouk Schiltz; mit Isaac Bush, Larisa Faber, Jules Werner, Daron Yates und Gintare Parulyte. Keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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