Und wenn nicht irgendwann um das Jahr 2030 der 700 000-Einwohnerstaat Realität würde, den Premier Jean-Claude Juncker nach den Ren-tentischbeschlüssen vor sieben Jahren als Panikszenario streute? Sondern wenn bereits heute ein 900 000-Einwohnerstaat existierte?
Forscher der Abteilung Géographie et développement (Geode) am Differdinger Ceps/Instead gehen davon aus. Allerdings sprechen sie von keinem Staat, sondern einer Metropolenregion. Sie hat Luxemburg-Stadt und Umland zum Zentrum und ihre Grenzen verlaufen dort, wo von der jeweils ortsansässigen aktiven Bevölkerung noch wenigstens zehn Prozent Pendler zu einem in Luxemburg gelegenen Arbeitsplatz sind. Diese aire métropolitaine reicht im Süden bis kurz hinter Thionville, im Osten bis kurz vor Trier, im Westen bis weit hinter Arlon und im Norden kaum über die Grenze mit Belgien hinaus.
Eigentlich kein überraschender Ansatz. Irgendwo müssen die ausländischen Berufspendler, deren Zahl nach jüngsten Angaben der Sozialversicherung Ende Februar bei über 145 000 lag, ja herkommen. In einer noch unveröffentlichten Ausgabe der Ceps-Reihe Population et territoire aber zeigt das Forscherteam um den Geografen Christophe Sohn, dass die Stadt Luxemburg und ihr Umland eine außerordentlich treibende Rolle bei der Schaffung so genannter „Metropolenarbeitsplätze“ spielen, die besonders wissensintensiv und Wert schöpfend sind: Sind etwa zwei Drittel aller landesweiten Arbeitsplätze in der Agglomeration Luxemburg zu finden, sind es laut Geode fast 86 Prozent der Metropolenjobs. Und wenn sie „wanderten“, dann zwischen 1994 und 2005 aus der Hauptstadt zunächst in ihre Randgemeinden und ganz allmählich weiter nach außen.
Es spricht für den Weitblick des nationalen Forschungsfonds (FNR), dass er für die Untersuchungen, die das Ceps gemeinsam mit der Uni Luxemburg durchführt, ein Projekt aufgelegt hat. Dass in Métrolux nicht nur der „metropolisation process in Luxembourg and the cross-border areas“ studiert, sondern auch nach der Notwendigkeit einer „cross-border metropolitan governance“ gefragt wird, spricht ebenfalls dafür.
Denn die Métrolux-Forscher stufen das 900 000-Einwohner-Areal als „métropole unipolaire“ ein.1 Das ist auch politisch bedeutsam. Der Wirtschaftsmotor in der Agglomeration Luxemburg läuft so rund, dass der Großraum Thionville, der für sich 100 000 Einwohnern zählt, ähnlich dicht besiedelt mit in Luxemburg in Metropolenjobs Tätigen ist wie Hesperingen. Vielleicht hatte der CSV-Abgeordnete Lucien Thiel ja Recht, als er Mitte März in einer Parlamentsdebatte über Luxemburgs Politik im Rahmen der Großregion meinte, „wir haben mit unserer wirtschaftlichen Anziehungskraft die Regionen um uns ausgesogen und zu einem einzigen Schlafraum gemacht“. Selbst Jean-Marie Rausch, der langjährige Bürgermeister von Metz, musste sich im Kommunalwahlkampf vergangenes Jahr vorhalten lassen, er habe seine Stadt zu einer „Schlafgemeinde für Luxemburg“ werden lassen.
Allein die Dynamik in Verkehr und Wohnungsbau zeigt den wachsenden Problemdruck. 145 000 Berufspendler am Tag, von denen laut neuesten Zahlen nur sechs Prozent regelmäßig öffentliche Verkehrsmittel benutzen, lassen nicht nur in Luxemburg die Planungsaktivität steigen. Mittlerweile liegen aus Lothringen zwei Vorschläge für einen S-Bahn-ähnlichen Verbund mit Luxemburg vor, teils auf neuen Gleisen. In Rheinland-Pfalz, von wo immer mehr Pendler kommen, wurden erst vergangene Woche Pläne zur Reaktivierung einer für den Personenverkehr derzeit nicht genutzten Bahnstrecke ab Trier Richtung Luxemburg publik, neue Halte in Trier sowie im grenznahen Raum inklusive.
Der wohl deutlichste Beweis für das Funktionieren der aire métropolitaine dürfte der Wohnungsmarkt sein: Anfang 2007 schätzte Wirtschaftsminister Jeannot Krecké die Zahl der Luxemburger, die sich hinter der Grenze niedergelassen hatten, auf mindestens 6 000. Besonders stark war der Wegzug nach Rheinland-Pfalz und ins Saarland gewachsen, der allein 2005 und 2006 doppelt so groß war wie von 2000 bis 2005. Krecké verfügte damals über keine Daten aus Lothringen, doch der Bürgermeister von Audun-le-Tiche etwa gab Anfang dieses Jahres dem Land gegenüber an, dank des Zuzugs aus Luxemburger Südgemeinden die Primärschule am Ort so auslasten zu können, wie seit der Schließung des Hochofenwerks in Micheville nicht mehr (d‘Land, 18.01.2008). Aber wenn das hiesige Wohnungsproblem im grenznahen Ausland zur Lösung drängt, kann es dort den Schlafraumcharakter noch verstärken.
Und so rasch wird der Großraum Luxemburg seine Motorfunktion nicht verlieren. Wenn Hauptstadtbürgermeister Paul Helminger angesichts hinter den Kulissen geführter Diskussionen, ob der Finanzsektor nicht stärker gestreut angesiedelt werden könnte, insistiert, man habe es mit einem „Cluster aus Finanzplatz, Hauptstadt, EU-Verwaltungs- und Justizstandort“ zu tun, „in dem es auf ganz enge Kontakte ankommt“, dann ist das offenbar nicht nur Standortpolitik: „Gerade Metropolensektoren hängen von kurzen Wegen ab, ob es staatlichen Planern gefällt oder nicht“, sagt der Wirtschaftsgeograf Olivier Walther vom Ceps. Verlagert werde, was nicht strategisch bedeutsam sei oder über elektronische Kommunikationswege seine Funktion auch von weiter her erfüllen kann. Wie etwa die nach Esch-Belval verlegten Abteilungen der Dexia Bil.
Solche Bewegungen aus der Hauptstadt-Agglomeration heraus sollte es noch mehr geben, meint Walther. Sonst bleibe diese längerfristig „attraktiv für Firmen, aber repulsiv für Wohnungssuchende“. Von Mobilitätsproblemen gar nicht zu reden.
Damit wäre eine Art grenzüberschreitendes IVL-Konzept gefragt, plus die Institutionen zu seiner Exekution. Landesplanungsminister Jean-Marie Halsdorf kennt das Problem: „Wir denken nicht nur im Maßstab der Großregion mit elf Milionen Einwohnern. Wir arbeiten mit dem Metropolenansatz ebenfalls und versuchen, bilateral mit den Nachbarländern Veränderungen anzuschieben.“ Gut voran komme man mit der lothringischen Seite, da Belval sich als attraktiver grenznaher Standort konkretisiert.
Hoffentlich behält der Minister Recht. In einem Interview mit Le Quotidien Anfang Juni meinte Roger Cayzelle, der Präsident des Conseil économique et social de Lorraine, „il faut créer un vrai exécutif transfrontalier“, doch die aktuelle Logik, „construction des routes pour véhiculer des travailleurs frontaliers“ sei noch nicht überwunden zugunsten einer „construction commune“. Erste Schritte zur „construction politique“, die Cayzelle für so wichtig hält, gibt es auf interkommunaler Basis: Esch-Alzette, Monnerich, Sanem und Schifflingen wollen mit sechs französischen Grenzgemeinden ein Groupement européen de coopération transfrontalière (Gect) bilden. Für solche Körperschaften öffentlichen Rechts schuf vor einem Jahr die EU die Basis. Ohne Umweg über den Staat sollen sie EU-Fonds anzapfen können. Ambitionen hat das Gect der zehn Alzette-Gemeinden, für dessen Gründung es seit Anfang Juni eine offizielle Absichtserklärung gibt: Es soll Mobilitätsfragen um Belval lösen helfen, soll verhindern, dass sich auf französischer Seite Belvals Discounter ansiedeln können wie entlang der belgisch-luxemburgischen Grenze, und die beteiligten Gemeinden – auf diese Abmachung ist die Escher Bürgermeisterin Lydia Mutsch besonders stolz – wollen ihre Bebauungspläne aufeinander abstimmen.
Abzuwarten bleibt, was so ein Zusammenschluss wird leisten können. Und zu klären, welche Rolle der Luxemburger Staat zu spielen hat. Um Letzteres geht es beim Punkt governance im Métrolux-Projekt: Die Frage nach dem Nutzen all der différentiels, die Luxemburg vor allem fiskalisch gegenüber dem Ausland noch pflegt, stellt sich. „Eine paradoxe Lage für den Staat“, sagt Projektleiter Sohn. „Er ist als einziger Nationalstaat in der grenzübergreifenden Debatte entscheidungsmächtiger als seine Gesprächspartner. Aber es stellen sich ihm viel gewichtigere Standortfragen.“ Dass in der Metropolenregion um Genf Franzosen und Schweizer nun gemeinsam dafür sorgen wollen, dass nicht allein in Genf gewirtschaftet und nach der Arbeit im nahen Frankreich geschlafen werden soll, sei beispielgebend. Solche Vergleiche stelle Métrolux mit anderen Metropolen in Europa an. Sohn weiß aber auch: Ehe solche Abmachungen zu Stande kommen, können zehn, vielleicht auch 15 Jahre vergehen.
Aber vielleicht wird Métrolux entscheidende Anstöße liefern. Immerhin war hierzulande kein Geringerer als der Premier bereits im April 2002 seiner Zeit weit voraus und erklärte dem CSV-Kongress in Sandweiler, man müsse mit Prospektionsreisen und vielleicht sogar Investitionshilfen Unternehmen zur Ansiedlung nicht nur in Luxemburg, sondern auch in der Großregion bewegen (d‘Land, 26.04.2002). Später war öffentlich keine Rede mehr davon. Aber wieso sollte, was damals zur Zähmung des 700 000-Einwohnerstaats angebracht schien, nicht der ausgeglicheneren Entwicklung der 900 000-Einwohner-Metropole dienen können?
Christophe Sohn, Olivier Walther: „Métropolisation et intégration transfrontalière: le paradoxe luxembourgeois“. Espace [&] Sociétés, Nr. 134