Das letzte Hotel in Differdingen hat im Januar endgültig geschlossen. Die Aussichten auf Besucher sind gering, der Ruf schlecht. Die Kulturhauptstadt soll Luxemburgs
drittgrößte Stadt in ein neues Licht rücken und die Differdinger zur Kunst bringen

Neues sehen mit Augenbinde

d'Lëtzebuerger Land du 01.04.2022

Plätscherndes Wasser, eine Katze miaut, unter den Füßen glatter Asphalt, ein Bordstein, Holzbohlen. Dann Kies, Sand, schließlich Gras, das Plätschern wird lauter. Chantal Sabattini ist sich fast sicher, sie steht an einer bestimmten Stelle am Weiher. Chantal Sabattini lebt seit 26 Jahren in Lasauvage, kaum 70 Meter von der kleinen Kirche Sankt Barbara entfernt. So wie heute hat sie ihre Umgebung noch nie wahrgenommen. Es ist ein Sonntag im Februar, die Sonne noch ein seltener Gast, sie wärmt kaum und kommt spät in das schmale Tal. Alisa Oleva zieht bunte Seidentücher aus ihrem Rucksack und verteilt sie an die acht Menschen vor der Kirche. Alisa Oleva trägt Pink und Hellblau, Glitzerlidschatten und viel Energie im Gepäck. Vier der acht Workshopteilnehmer tragen ab jetzt eine Augenbinde, überlassen ihren Sehsinn jeweils einem anderen. Alisa Oleva ist Walking Artist. Ihre Kunst ist das Gehen und die versucht sie heute zu vermitteln. Sieben Teilnehmer hat der „Walkshop“ in den Differdinger Ortsteil Lasauvage gezogen, Chantal Sabattini war schon dort. Als sie die Augenbinde abnimmt, sieht sie sich um und steht mitten im Park, nicht am Weiher. „Die Erfahrung, ohne etwas zu sehen, durchs Dorf zu gehen, war nicht so, wie ich das erwartet habe. Das war sogar ein wenig verstörend“, sagt sie. Drei Stunden Workshop rund um die Kirche, Chantal Sabattini ist das in guter Erinnerung geblieben. „Es war eine kollektive Erfahrung, das durften wir jetzt ein paar Jahre nicht. Man lernt unheimlich viele Leute kennen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Das wird einem geschenkt. Für Erwachsene gibt es normalerweise nicht so viele Workshops.“

Der Workshop ist Teil des Esch2022-Projektes Desire Lines, geleitet von Schauspielerin, Theaterregisseurin und -autorin Claire Thill. Sie erklärt: „Eine Desire Line ist ein Wunschpfad, man kann auch Trampelpfad sagen. Ein Weg, der nicht geplant ist von einem Urbanisten. Er entsteht dadurch, dass Menschen ihn immer wieder betreten, weil er eine Abkürzung ist oder eine schönere Route. Er drückt den Wunsch der Einwohner aus. Wir wollen uns mit den Wünschen der Einwohner beschäftigen und diese mit dem Gehen verbinden.“ Dafür hat Claire Thill vier Künstler verschiedener Disziplinen zusammengetrommelt, eine von ihnen ist Alisa Oleva, Walking Artist in London. Drei Rechercheresidenzen, Workshops, viele Gespräche, eine Performance – Desire Lines ist eines der Esch2022-Projekte, die Differdingen dieses Jahr aufleben lassen sollen.

Es ist Januar. Die Entscheidung schon gefallen, die Gemeinderatszustimmung nur noch Formsache. Das einzige Differdinger Hotel wird eine Seniorenresidenz. Für rund zwölf Millionen Euro kauft die Gemeinde es dem Betreiber ab, der erst seit zwei Jahren im Geschäft ist. Das Vier-Sterne-Hotel „Gulliver Tower“ ist 2019 eröffnet worden, sollte in seinen 45 Zimmern im Stadtzentrum internationale Gäste beherbergen. Doch die kommen nicht. Auf Lockdown folgte Konkurs und schließlich besagte Gemeinderatssitzung und Verkauf. Der „Gulliver Tower“ hatte ein schlechtes Timing und Differdingen auch ohne Pandemie wenig Attraktivität für Besucher. Das einzige Hotel in Luxemburgs drittgrößter Stadt ist tot, Hoffnungen auf Besucher mit ihm begraben, die Fassaden schmutzig, das Werk der Arbed tüchtig. Durchweg negative Schlagzeilen bestimmten zuletzt den Blick auf Differdingen. Ein Überfall Anfang des Jahres, die Kunden bleiben den Geschäften fern, weil sie sich im Stadtzentrum nicht sicher fühlen. Polizeikontrollen, Drogenhandel, Lärm, Vandalismus. Daran wird auch Esch2022 vorerst nichts ändern. Doch sollen die Projekte den Differdingern eine Perspektive öffnen – durch einen Zugang zur Kultur und gemeinsame Erfahrungen. Differdingen ist eine der elf Südgemeinden, die durch Esch2022 kulturellen Aufwind erhalten sollen.

Mit der Pandemie sind die Besucherzahlen des Aalt Stadhaus eingebrochen. Das von der Gemeinde geführte Kulturhaus ist auf Comedy spezialisiert. „Wir haben echt Probleme, Leute zu bekommen“, sagt Lynn Bintener, Projektkoordinatorin für Esch2022 bei der Gemeinde. Das liegt nicht nur an der Pandemie, vermutet sie. „Die steigenden Preise überall, die Leute überlegen sich das zweimal und kommen nicht.“ In diesem Jahr könnte es aufwärts gehen, doch Esch2022 hat ein Marketing-Problem. Vom Workshop vor ihrer Haustür hat Chantal Sabattini über eine befreundete Tänzerin erfahren. „Es schien mir, als sei das nur für Insider gedacht“, sagt sie, aber wagte es trotzdem sich anzumelden. Die Webseiten sind unübersichtlich, Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert nur, wenn man befreundete Künstler hat. Kein Plakat, kein Aushang an der Kirche oder sonst wo weisen auf bevorstehende Veranstaltungen hin. Wer bei Esch2022-Projekten mitmachen will, muss aktiv nach ihnen suchen, in Differdingen wie überall anders. Für diejenigen, denen die Türklinke eines Kulturhauses sowieso eine Hürde mit einer fremden Welt dahinter ist, ist Esch2022 noch immer weit weg.

Differdingen will mit den diesjährigen Projekten Kultur nach außen tragen. „Das ist wichtig, die Leute sehen einfach, dass da was passiert, und interessieren sich“, sagt Lynn Bintener. Zurzeit wird der alte Bauernhof Lommelshaff in der Innenstadt umgebaut. Lange war seine Zukunft Streitthema in Differdingen. „Viele Anwohner haben angerufen. Was passiert gerade auf dem Lommelshaff?“ Das Lommelshaff soll eine der Spielstätten von Esch2022 werden, im Hof steht nun ein Pavillon, Ausstellungen und Workshops sollen hier Besucher hinziehen. Auch über dieses Jahr hinaus soll dieser Ort erhalten bleiben. „Es soll eine grüne Oase mitten in Differdingen werden“, sagt Lynn Bintener.

Die Kulturhauptstadt erlaubt Differdingen einen größeren Projektumfang als in anderen Jahren. Der Geldbeutel sitzt lockerer. Das Budget für Kultur wurde für dieses Jahr von normalerweise 2,5 Millionen auf gute 4,5 Millionen Euro hochgeschraubt. Die Gemeinde finanziert damit auch einige Projekte, die von der Esch2022-Kommission zwar abgelehnt wurden, aber für Differdingen dennoch interessant sind. „Uns ist wichtig, Lokalmatadoren zu unterstützen“, erklärt Lynn Bintener. Der gebürtige Differdinger Schriftsteller Jean Portante hat einen literarischen Reiseführer über Differdingen verfasst, dafür investierte die Gemeinde 34.000 Euro. „In dieser Höhe hätten wir den Zuschuss ohne Esch2022 wahrscheinlich nicht gegeben.“ Außer Geld erhalten die Künstler und Projektleiter von der Gemeinde Unterstützung bei der Umsetzung ihrer Projekte, mit der Technik und Logistik, mit Genehmigungen und anderen administrativen Angelegenheiten, sie erhalten Residenzen und Probenräume – zum Beispiel die Kirche. Auch beim Publikum kommt sie gut an. „Die Kirche ist ein Renner. Die Leute wollen da alle hin. Sie kommen einfach rein, und fragen nach: Hier ist jetzt ein Tanzworkshop?“

Es ist Januar, der Kirchenboden mit schwarzem Tanzteppich aus PVC ausgelegt. 16 Füße in schwarzen und weißen Socken folgen den Anweisungen von Ioanna Anousaki. Sie gehören den jungen Tänzern und Tänzerinnen vom Differdinger Turn- und Tanzverein FlicFlac, die heute den Barock kennenlernen. Mit dem Projekt DifferDanceDays will das Luxembourg Collective of Dance (LuCoDa) die Geschichte des Tanzes aufarbeiten, vermittelt Stile verschiedener Epochen an Leute, die sich damit noch nie beschäftigt haben. Rhiannon Morgan, eine der beiden Projektleiterinnen, sagt: „Man ist daran gewöhnt, Tanz auf der Bühne zu sehen. Das sorgt für eine große Distanz, und dafür, dass die Leute leider etwas zögerlich sind, wenn es darum geht, ein Tanzstück zu besuchen. Also haben wir uns gesagt, warum nicht den Tanz zu den Leuten bringen.“ Vier Workshops, unter anderem mit FlicFlac und einem Differdinger Karateverein, Performances in Bussen und an Haltestellen stehen auf dem Programm, schließlich im Oktober der Abschlussball im Stadhaus. Lynn Bintener hofft: „Davon kann das Stadhaus vielleicht profitieren. Die Vereine kommen dann hier hin – Differdinger, die vielleicht noch nie hier im Stadhaus waren.“

Claire Thill und Desire Lines haben einen anderen Ansatz, um Leute einzubinden. „Unsere Leidenschaft ist das Gehen und das ist etwas, das jeden betrifft“, sagt sie. „Die Erfahrungen sind alle anders. Über diese Erfahrung kann man sich austauschen. Ich hoffe, dass wir verschiedene Perspektiven öffnen können.“ Für das Projekt hat Claire befreundete Künstler verschiedener Disziplinen ins Boot geholt. Alisa Oleva hat das Gehen zu ihrer Kunst gemacht, Performance-Künstlerin Clio Van Aerde lief die ganze Grenze Luxemburgs für ein Projekt ab. Auch Claire Thill beschäftigt sich lange schon mit dem Thema. „Das Gehen ist immer in meinem Kopf drin. Ich habe schon Projekte gemacht übers Gehen, auch in der Kunst. Vor einigen Jahren war ich in Wroclaw und da ist alles voller Desire Lines. In Luxemburg überhaupt nicht. Ich finde, das ist auch repräsentativ für eine Kultur. Wie man den Regeln gehorcht, die Luxemburger gehen gern die vorgefertigten Wege und die Polen sind wahrscheinlich ein bisschen abenteuerlicher.“

Das Projekt erstreckt sich über die drei Gemeinden Esch/Alzette, Düdelingen und Differdingen, ungeplant kam noch Audun-le-Tiche hinzu – eine Entdeckung auf einem Streifzug. Zwei von drei Rechercheresidenzen sind schon abgeschlossen, eine in der Kirche in Lasauvage, eine im Escher Bâtiment4. „Wir haben viel mit Einwohnern über das Gehen geredet. Durch Zufall, weil wir viel spazieren gegangen sind, haben wir Leute kennengelernt“, sagt Claire Thill. Auch in Sprachkursen und beim Spaziergang mit einer Seniorengruppe ließen sie sich Geschichten erzählen, Lebenswege, Gehwege, andere Linien. Um die 20 Gesprächspartner mit jeweils einer halben bis vier Stunden Gespräch haben sie aufgezeichnet, dazu noch die Ergebnisse der Workshops. Das Material wird im Juli während der letzten Residenz zu Audiowalks verarbeitet, außerdem steht Ende Juli eine Performance an.

Im „Walkshop“ lernten die Teilnehmer mit Alisa Oleva, ihren eigenen Linien zu folgen oder davon abzuweichen, die Welt mal mit anderen Augen zu sehen – oder im Fall der Augenbinde – mal ohne Augen, fühlen, riechen, hören. Für Chantal Sabattini war das eine Überraschung, hat es doch ihr Verständnis für andere verstärkt. Sie hat sich gefragt, wie es wäre, sehbehindert zu sein. „Ich kenne keine Blinden, sehe wenig Leute im Rollstuhl. Ich habe das Gefühl, ich lebe in einer abgeschirmten Welt von ihnen, solche Fragen stelle ich mir schon lange nicht mehr“, sagt sie. „Ich habe das als ganz angenehm empfunden und mir gedacht: Wenn ich blind wäre, damit würde ich klarkommen. Die Angst vorm Blindsein hätte ich jetzt nicht mehr.“

Franziska Peschel
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