Theater

Vom unumstößlichen Spiel des Lebens

d'Lëtzebuerger Land du 01.02.2013

„Er ist ein guter Mensch, ein guter Mensch – aber Woyzeck, Er hat keine Moral! Moral, das ist wenn man moralisch ist, versteht Er. Es ist ein gutes Wort.“ Eine Begrifflichkeit wird durch sich selbst erklärt. Dieser Versuch des Hauptmanns, dem kleinen Soldaten, dem medizinischen Versuchskaninchen Franz Woyzeck, Moral zu erläutern, entlarvt vor allem eines: In dieser durchhierarchisierten Welt gibt es sie nicht. Es gibt nur ein Unten und ein Oben. Nach unten wird getreten, unnachgiebig, aber ohne böse Absichten, nach oben wird hingenommen, verwundert, kindhaft. Es ist ein Spiel, so läuft es. Unumstößlich. Unabänderlich. Und auf diesem Karussell der menschlichen Komödie gilt es mitzureiten. So hat es sich mit der „Creatur“.

Der Rumäne Vlad Massaci vom Teatrul National Radu Stanca aus Sibiu hat dieser Tage Georg Büchners fragmentarisch und in mehreren Handschriften überliefertes Kurzdrama Woyzeck inszeniert, eine Koproduktion mit dem Theater Esch und den Théâtres de la Ville de Luxembourg. Mit luxemburgischen und deutschen Darstellern (in der Titelrolle Luc Feit) bringt er Woyzeck als atmosphärisch geladene Jahrmarktszenerie auf die Bühne. Massaci erweitert zu diesem Zweck die Figur des Leierkastenspielers zu einer Art allgegenwärtiger Allegorie, die das Geschehen dieser im Kern tragischen „Societät“ clownesk besingt. In diesem Sinne darf die Clownerie, die auch an der Maske des Doktors und des Hauptmanns abzulesen ist, keinesfalls als komisches Element bewertet werden. Massacis Woyzeck wirkt vielmehr tief melancholisch. Die Kirmesmusik lässt die achselzuckende Unüberwindbarkeit eines sozialen Schicksals erahnen, das dieses großgewachsene Kind ertragen muss: als Vater eines unehelichen Kindes, als gehörnter Liebender, als medizinische Labormaus, als armer Soldat. Bis Woyzeck zum Mörder wird.

Dieses Gesellschaftsspiel wird durch mehrere Elemente auf der Bühne verkörpert: Ein haushohes Gitter trennt die Welt der Verlierer und die der Gewinner, ein Gitter durchbrochen von astronomischen Pferden: „Meine Herren, hier ist zu sehen das astronomische Pferd und die kleine Kanaillevoegele. Sind Favorit von alle gekrönte Häupter Europas.“ Dasselbe Gitter wird im weiteren Verlauf um seine eigene Achse gedreht, die Mitglieder der Gesellschaft fahren darauf ihre Runden im Kreislauf des Lebens. Ein Gorilla deutet die Bezüge zwischen dem Tierischen und den unteren Klassen an, kann angesichts seiner Assistentenrolle im Verlauf der Experimente Woyzeck gegenüber sogar als höhergestellt verstanden werden. Atmosphärisch gelingt dem Regisseur eine ästhetisch wie inhaltlich relevante Inszenierung.

Etwas überrascht die verspannte darstellerische Leistung des ohne Frage talentierten Luc Feit. Während er als Versuchskaninchen und in allen anderen gestisch geprägten Szenen überzeugt, wirkt die Betonung von Büchners dialektal und umgangssprachlich gefärbtem Text bisweilen angestrengt, vortragend und unnatürlich. Der artikulatorisch überfordert wirkende Darsteller lässt folglich streckenweise seinen luxemburgischen Akzent zu sehr heraushängen. So entsteht in textbeladenen Szenen eine merkliche Distanz, die viel gelobte Stimmungsdichte geht verloren.

Von Bösenberg über Wagner bis hin zu Vicky Krieps liefern die weiteren Darsteller eine solide Vorstellung. Unterstrichen werden sollte jedoch einmal mehr Martin Engler, der als Drehorgelmann und als Doktor eine hinreißende Vorstellung bietet. So sehr der Anschein trügen mag, Englers Kunst wirkt nie einstudiert, nicht handwerklich, sondern aus dem Bauch heraus, spontan. Jede noch so detaillierte Mimik trägt zum gestisch kraftvollen Gesamtbild dieses körperlich sehr präsenten Akteurs bei. So stiehlt er selbst dann den anderen stellenweise die Show, wenn er das Hauptgeschehen aus dem Halbschatten einer Bühnenecke heraus beobachtet.

Insgesamt also erweist sich diese Woyzeck-Produktion als gelungene Regiearbeit, die jedoch von ihrem etwas angespannten Hauptdarsteller wenig profitieren kann.

Woyzeck von Georg Büchner; eine Produktion des Escher Theaters, der Théâtres de la Ville de Luxembourg und des Teatrul National Radu Stanca, Sibiu. Regie: Vlad Massaci; Musik: Vasil Sirli; Choreografie: Florin Fieroiu; Beleuchtung: Gwen Lohmann; Bühnenbild: Dragos Buhagiar; Maske: Jasmine Schmit. Keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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