An einem Montagmorgen sitzt Monica Dos Santos, 33 Jahre alt, im hellen Büro des Office social von Luxemburg-Stadt. Die Mutter von zwei Kindern, einem 15-jährigen Sohn und einer siebenjährigen Tochter, wirkt offen, aufgeweckt. Derzeit macht sie eine Lehre in der Pflegehilfe und arbeitet in Vollzeit. Es gehe ihr mittlerweile besser, sie fühle mehr Frieden in sich und „lebe wieder“, sagt sie. Im April vergangenen Jahres, nach etlichen Jahren Konflikte, zog sie die „Handbremse“ und trennte sich von ihrem damaligen Partner. Er rastete aus, schlug sie vor den Kindern, fasste ihr an die Gurgel, ließ sie kaum mehr los. Mehrere Monate durfte er sich der Familie nicht nähern. Ihre Tochter habe seitdem Probleme, einzuschlafen, und in der Schule. Sie internalisiere ihre schwierigen Gefühle. Monica Dos Santos hat seitdem das alleinige Sorgerecht für sie. Der Vater meldet sich ab und zu – manchmal vergehen mehrere Wochen, ohne dass sie von ihm hört.
2021 hatte das Paar gemeinsam eine Wohnung in Kirchberg gekauft, doch die Beziehung lief immer schlechter. Monica Dos Santos erklärt, sie habe verbale Gewalt erfahren, außerdem habe ihr Mann von ihr erwartet, den Haushalt und die Kinderbetreuung neben ihrer Arbeit alleine zu meistern und ihm sexuell zur Verfügung zu stehen. Lösungsvorschläge habe er abgelehnt. Bei ihren eigenen Eltern stieß sie nach dem gewalttätigen Übergriff auf wenig Verständnis: Ihr wurde nicht geglaubt, dass ihr Ex-Mann zu so etwas fähig sei, ihre Eltern fragten, was sie denn nun alleine mit zwei Kindern machen würde. Die Großeltern helfen nun, wo sie können – doch ihre Tochter möchte sie nur bedingt belasten.
Fast die Hälfte der Alleinerziehenden sind dem Armutsrisiko ausgesetzt (45 Prozent, Statec 2024). Die Zahlen sind eindrücklich: Das Risiko, arm zu werden, lag für ein Elternteil mit mehr als einem Kind 2022 noch bei 27,5 Prozent; ein Jahr später stieg es auf 48,1 Prozent. Da sind 30 Prozent mehr als der landesweite Durchschnitt von 18,8 Prozent. EU-weit stehen Alleinerzieher/innen nur in Litauen, Malta und Spanien schlechter als in Luxemburg da (Stand 2020). Viele von ihnen sind Teil der Arbeiterklasse, die die Alten in den Heimen pflegt und Bürogebäude und Edelstahlküchen schrubbt. Deren Armut die Premier Luc Frieden und Finanzminister Gilles Roth eigenen Aussagen nach „berührt“. Es geht um etwa ein Viertel der Bevölkerung, wenn man die Kinder einberechnet (Statec, 2024). Kinder aus diesen Haushalten sind nämlich besonders armutsgefährdet. Wie gehen ihre Kinder damit um, dass sie mit dem Standard ihrer Klassenkameraden nicht mithalten können? Monica Dos Santos kommen die Tränen. „Ich muss ihnen erklären, warum wir nicht alles kaufen können. Dass uns sonst Geld für die allernötigsten Dinge wie Essen und Autoversicherung fehlt.“ In den Urlaub zu fahren, ist nicht möglich.
Da der Name ihres Ex-Mannes immer noch im Kaufvertrag steht, zahlt sie monatlich 1 900 Euro Darlehen für ihre Wohnung. Dem Drei Personen-Haushalt bleiben somit 1 900 Euro netto für Rechnungen, Essen, Auto, Spielzeug und Kleidung übrig. (Das Office social überprüfte und bestätigte die Einkommensdaten und Familiensituationen der Porträtierten dem Land gegenüber.) Das Sozialamt hat die Finanzierung für die Kosten der während der Schulferien kostenpflichtigen Maison Relais aufgetrieben, zahlt den Turnverein für ihre Tochter sowie den Kampfsport für ihren Sohn, damit sie „auf andere Gedanken“ kommen, erklärt die Sozialarbeiterin Silvia Fernandes.
Das Steuersystem benachteiligte jahrzehntelang Alleinerziehende, ebenso wie Verwitwete, getrennt Lebende und über 64-Jährige via die Steuerklasse 1a, die 1990 wurde von der CSV-LSAP-Regierung eingeführt wurde. Nach einer Scheidung und einer Übergangsphase von drei Jahren in Klasse 2 fanden sich Alleinerziehende in einer Steuerklasse wieder, die in manchen Einkommenssparten dazu führte, dass sie doppelt so viele Steuern wie verheiratete Paare zahlten. Das führte vor 35 Jahren zu großem Ärger bei den mehr als 46 000 Betroffenen. Ein Schlüsselmoment – doch der Groll über das Steuersystem ist nie verschwunden.
CSV-Finanzminister Gilles Roth fassoniert sich heute als moderner, gesellschaftspolitisch versierter Herr übers Geld. Lebensformen sollen nicht mehr bestraft werden, lautet das Argument. Er versprach Steuerentlastungen dort, wo sie am nötigsten sind, also bei alleinerziehenden Geringverdiener/innen. Seit Januar dieses Jahres bezahlen jene, die bis zu 52 400 Euro Brutto im Jahr verdienen, keine Steuern mehr. Auch der Steuerkredit (Crédit d’impôt monoparental, Cim) wurde erhöht und liegt nun bei 3 504 Euro. Für die Familien mit niedrigerem Gehalt nähert sich die Klasse 1a der Klasse 2 an, vor allem für jene, die vom Cim profitieren.
Jean Heuschling setzt sich als Vorsitzender des Collectif Monoparental für die Belange der Familien ein und ist bei den Piraten Mitglied. Er sagt, es gebe genug Alleinerziehende, die über den Cim nicht Bescheid wüssten, weil sie keine Steuererklärung machen. Die Reform gehe in die richtige Richtung, doch bei den mittleren Einkommen sei noch viel zu tun. Die Situation sei immer noch „völlig absurd“. Die meisten Menschen würden völlig unterschätzen, wie hoch die Kosten für Alleinerziehende sind.
Da die Scheidungsrate steigt, nimmt auch der Prozentsatz der Alleinerziehenden zu. Dem Statec nach gibt es mittlerweile 34 018 alleinerziehende Haushalte im Land – 6,3 Prozent der Gesamtbevölkerung; 71 Prozent Mütter, der Rest Väter (Stand 2024). Ältere Daten zeigen, dass sich insbesondere die Zahl der „pères isolés“ zwischen 2011 und 2021 mehr als verdoppelt hat, von 6 658 zu 14 053, bei einem Bevölkerungswachstum von 25 Prozent.
Die Schicksale, die dem Land erzählt wurden, verdeutlichen einmal mehr, dass insbesondere die portugiesischsprachige Bevölkerung armutsgefährdet ist. N’faba Soaré ist 59 Jahre alt und kam vor 15 Jahren aus Portugal nach Luxemburg. Er arbeitete als Tellerwäscher, fünf Jahre später kam seine Frau aus Guinea-Bissau hinzu. Sie bekamen einen Sohn, doch die mentale Gesundheit der Mutter verschlechterte sich, sie schaffte es nicht mehr, ihren Sohn vom Kindergarten abzuholen. Eines Tages, das Kind war vier Jahre alt, verließ die Mutter die Familie in Richtung Belgien. „Ich wusste nicht, wohin sie ging. Von einem Tag auf den anderen war sie einfach weg“, sagt N’faba Soaré. Da abendliche Arbeitszeiten nicht mehr infrage kamen, verlor er seinen Job im Restaurant. Die Mutter verlor das Sorgerecht für ihren Sohn. In seiner Kultur sei es „etwas anders“ als hier, was Geschlechterrollen angeht, sagt er. Es sei normal, dass Mütter sich um ihre Kinder kümmern und präsent seien. Die Stigmatisierung empfindet der alleinerziehende Vater als umso größer. Da er keine Familie hat, auf die er zählen kann, ist er auf sich allein gestellt. Manchmal besucht seine Ex-Frau die Familie mittlerweile, sagt er. N’faba Soaré ist auf Arbeitssuche und hält sich derzeit mit Revis und Arbeitslosengeld über Wasser. Nach Mietabzug bleiben ihm und seinem Sohn knapp 1 700 Euro zum leben. Trotz allem beabsichtigt er in Luxemburg zu bleiben, um seinem Kind bessere Bildungsmöglichkeiten zu bieten, als er sie hatte.
Auch Jassira da Cruz kämpft täglich für ihre Familie. Die gebürtige Kapverdierin erzieht ihre beiden Kinder alleine. Sie arbeitete in Modeläden, ließ sich dann umschulen; heute ist auch sie in der Ausbildung zur Pflegehelferin und fängt bald in einem Altenheim an. An ihrer Geschichte zeichnet sich die Wohnungskrise ab: Trotz unbefristetem Arbeitsvertrag fanden sie und ihr Ex-Partner keine Mietwohnung – ein Umstand, der sich nach der Trennung des Paares weiter erschwerte. Seit mehreren Jahren lebt sie mit ihren beiden Kindern im Bahnhofsviertel gemeinsam mit ihrer Mutter in deren Wohnung. Ihr Sohn, elf Jahre alt, teilt sich mit seiner siebenjährigen Schwester ein Doppelbett. Oft schläft auch Jassira Da Cruz in diesem Bett – in dem kleinen Zimmer, in dem sie selbst als Kind schlief. „Manchmal habe ich den Eindruck, dass es meiner Mutter einfach zu viel wird mit uns. Dass sie ihr eigenes Leben nicht leben kann.“ Sie steht seit 2020 erneut auf der Warteliste des Fonds de logement, doch bisher bekam sie keine Wohnung, obwohl ihre derzeitigen Wohnumstände für die Kinder ungeeignet sind. Manchmal fragen ihre Kinder, weshalb sie kein eigenes Zuhause haben und bei Oma leben, erzählt die 33-Jährige. Sie antworte dann, sie würde fleißig lernen, um hoffentlich bald die eigenen vier Wände zu haben. Der Mangel an erholsamem Schlaf und Privatsphäre wirkt sich negativ auf die ganze Familie aus. Wenn sie nicht so viel Kraft hätte, wäre sie schon längst depressiv geworden, sagt sie. Seit Januar habe sie 100 Euro mehr im Monat zur Verfügung.
„Die relative Einkommensarmut ist keine Armut de luxe, unter ihr kann man manchmal mehr leiden als unter absoluter Armut“, erklärte der Armutsforscher Christoph Butterwegge ergangenes Jahr auf RTL. Gerade für Kinder sei der Vergleich mit anderen besonders wichtig, und diese Art von Armut somit oft „erniedrigender und deprimierender“ für Betroffene. Er führte aus, dass Armut sich auch auf die seelische und körperliche Gesundheit auswirken kann.
Maria Filomena Da Cruz spricht gebrochenes Französisch. Sie erscheint verspätet zur Verabredung im Sozialamt. Sie trägt Brille, einen Dutt, ihr Blick ist verschwommen, als habe sie zu viel erlebt. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und Großmutter von zwei Teenagern, für die sie das Sorgerecht hat, da ihre Töchter nicht erziehungsfähig sind. Eine von ihnen leidet an Depressionen, die andere wurde selbst als Teenager schwanger und konnte ihrer Verantwortung nicht nachkommen. Da Cruz lebt vom Revis, ist bereits im Rentenalter, mit multiplen gesundheitlichen Problemen. Ihr jüngster Sohn ist 25 und wohnt ebenfalls bei ihr. Seine psychischen Probleme haben sich seit dem Tod des Vaters verschlimmert, er hat die Schule abgebrochen. „Die Vaterfigur fehlt ihm“, sagt Maria Filomena Da Cruz. „Sie sind stark und eine Kämpferin“, sagt die Sozialarbeiterin.