Aus der „Änderung und Neuordnung“ der Verfassung wurde nun der Vorschlag einer neuen Verfassung. Doch welches Staatsverständnis und Gesellschaftsbild liegen ihm zugrunde?

Der Sachzwang herrscht

d'Lëtzebuerger Land du 20.03.2015

Vergangene Woche einigten sich die drei Regierungsparteien und die oppositionelle CSV im parlamentarischen Ausschuss der Institutionen und Verfassungsreform auf einen Textvorschlag für eine Verfassungsrevision. Seit 1984 wurde an einer über die Änderung einzelner Artikel hinausgehenden Modernisierung der Verfassung geplant, bis der CSV-Abgeordnete Paul-Henri Meyers im April 2009 einen zwischen den Parteien im Ausschuss ausgehandelten ersten Revisionsvorschlag vorlegte. Der wurde seither unter Berücksichtigung der Gutachten des Staatsrats und der Regierung beziehungsweise des großherzoglichen Hofs sowie des rezenten Abkommens mit dem Erzbistum abgeändert. Er könnte, je nach Ausgang des Referendums vom 7. Juni, noch einmal geändert werden. Denn zwei der drei Fragen beziehen sich auf Artikel 62(1) mit dem provisorisvchen Wortlaut: „Pour être électeur, il faut être Luxembourgeois et être âgé de dix-huit ans.“

Solange CSV und LSAP sich gegen ein Referendum sträubten, hieß der Revisionsvorschlag bescheiden „portant modification et nouvel ordonnancement de la Constitution“, denn bloße Abänderungen schienen eine Volksbefragung überflüssig zu machen. Nun, da das Referendum beschlossene Sache ist, wurde er stolz in „Proposition de révision portant instauration d'une nouvelle Constitution“ umgetauft. Er soll bei den Gemeindewahlen in zwei Jahren als erste Verfassung in der Landesgeschichte von den Wählern demokratisch legitimiert werden.

Doch welches Staatsgefüge soll die neue Verfassung einzäunen, welches Gesellschaftsbild soll sie widerspiegeln?

Erklärtes Ziel der Revision ist es, den Graben zu überbrücken zwischen dem aus dem monarchistischen Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts stammenden Verfassungstext und der weit demokratischeren Verfassungswirklichkeit, wie sie täglich im Staat praktiziert wird. Dieser Graben klafft seit wenigstens einem Jahrhundert, seit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts, und war bisher äußerst nützlich, weil er der Regierung statt der Enge rechtlicher Normen den breitesten Interpretationsspielraum öffnete. Hinter dem Schein eines auf dem Papier quasi von Gottesgnaden autokratisch herrschenden Großherzogs konnte ein CSV-Staatsminister schalten und walten, wie er wollte. Allzu deutlich zeigte sich das in der Regierungskrise vor zwei Jahren, als die Regierung gestürzt wurde, aber nicht zurücktrat, und Kammer, Staatsrat und Regierung die Verfassung nach dem Geschmack des Tages auslegten.

Doch was hat der moderne Wettbewerbsstaat in einer deregulierten Welt sonst noch zu bieten, wenn keine Rechtssicherheit, und sei es mittels Rulings? Zudem geraten die halbfeudalen Verfassungsbestimmungen zunehmend in Widerspruch zum euro­päischen Recht und internationalen Verträgen. Eine undurchsichtige Operettenmonarchie ist aber nicht der seriöseste Rahmen für einen effizienten Finanz-, IT-, Biotech- und Logistik­standort. Deshalb zielen die wichtigsten Reformen der geplanten Verfassungsrevision auf den Großherzog und die Justiz, sollen im Land der kurzen Wege den Staat etwas schlanker machen und die Demokratie den Sachzwängen gefügig machen.

Als das Parlament 1999 nicht weniger als 115 Verfassungsartikel für revisionsbedürftig erklärte, klammerte es gerade diejenigen über die Rolle und Vorrechte des Großherzogs aus, um nicht an den Fundamenten des Staats zu sägen. 16 Jahre später soll keine andere Institution so tiefgreifend reformiert und entwertet werden wie die Monarchie. Dazwischen liegt der mit dem Thronwechsel angestrebte und kläglich gescheiterte Versuch der Remonarchisierung der Politik. Mit seinen peinlichen Familiengeschichten, seinem bizarren Geschäftsgebaren und der um das Euthanasiegesetz ausgelösten Verfassungskrise ist der Großherzog für die politischen Parteien ein unberechenbares Risiko für den ungestörten Ablauf der Staatsgeschäfte geworden.

Deshalb wird das Staatsoberhaupt vom Beginn der Verfassung ins Mittelteil zurückgestuft, der Verweis auf den Nassauischen Erbverein wird gestrichen, und statt Vorrechte erhält es Aufgaben. Wenn es die nicht erfüllt, dann kündigt das Parlament mit qualifizierter Mehrheit seinen Arbeitsvertrag, so ein nachträglich in den Vorschlag eingefügter Artikel 52. Erst auf Drängen des Staatsrats schrieb der parlamentarische Ausschuss nun in Artikel zwei des Verfassungsentwurfs, dass Luxemburg nicht nur eine parlamentarische Demokratie, sondern auch eine konstitutionelle Monarchie sei. Sonst hätte das Parlament in Ermangelung eines Thronerben gemäß Artikel 54 auch einen Präsidenten ernennen können. So wird das Staatsoberhaupt nicht einmal ein liberaler Bürgerkönig, der, wie Louis-Philippe in Zeiten des ungehemmten Liberalismus zur allgemeinen Bereicherung aufruft, sondern zu einem höheren Beamten, dessen vornehmste Aufgabe es ist, bei Prospektionsreisen in Golfmonarchien Kontakte zu den lokalen Emiren zu knüpfen.

Einher mit der Abwertung der Monarchie soll auch diejenige der Kirche gehen. Nach dem vor zwei Monaten getroffenen Abkommen der Regierung mit dem Erzbistum und anderen Religionsvertretern soll Artikel 106 über die staatliche Finanzierung der Priestergehälter gestrichen werden. Die traditionelle Allianz von Thron und Altar ist in einer liberalen Gesellschafft nicht mehr in der Lage, ihre soziale Kontrollfunktion zu erfüllen und wird so bloß zum Kostenfaktor. Man zieht die Konsequenzen.

Neben dem Staatsoberhaupt soll die Justiz Gegenstand der tiefsten Veränderungen durch die Verfassungsrevision werden. Dies war im ursprünglichen Textvorschlag nicht vorgesehen, doch inzwischen hieß der parlamentarische Ausschuss die Änderungsanträge gut, die die Regierung Mitte 2011 eingereicht hatte. Sie sollen die Justiz schlanker, schneller und billiger machen. Außerdem soll im Rahmen der Gewaltenteilung die Justiz gegenüber dem Parlament gestärkt werden, um eine in der Währungsunion zum Dogma erhobene Sachzwanglogik gegenüber dem Politischen und der Demokratie zu fördern.

In Einklang mit einem Gesetzentwurf des damaligen Justizministers François Biltgen (CSV) laufen die Änderungen darauf hinaus, dass ein Oberster Gerichtshof, die Cour suprême, als höchste Instanz geschaffen werden soll, welche Funktionen vom Kassationshof bis zum Verfassungsgericht erfüllen soll. Nach Abschaffung des erst 1996 gegründeten Verfassungsgerichts soll jeder Richter gleich welcher Gerichtsbarkeit selbst entscheiden, ob ein Gesetz gegen die Verfassung oder einen internatio­nalen Vertrag verstößt. Der Oberste Gerichtshof soll für verfassungswidrig gehaltene Gesetze umgehend außer Kraft setzen können, ein Vorrecht, das derzeit das demokratisch legitimierte Parlament innehat. Durch diese Rationalisierung sollen auch Besetzungsprobleme unterschiedlicher Gerichtsbarkeiten und Instanzen vermieden werden. Um die Autonomie der Justiz gegenüber der Politik und der Demokratie zu stärken, soll ein Nationalrat der Justiz als neue Standesorganisation für die Ernennung von Richtern und für Disziplinarmaßnahmen gegen Richter geschaffen werden.

In Zeiten der durch den europäischen Stabilitätspakt, Sixpack, Two-Pack und Defizitbremse europaweit institutionalisierten Austeritätspolitik können ab und zu Gesetze nötig werden, die so unpopulär sind, dass der parlamentarischen Demokratie etwas Gewalt angetan werden muss. Für den Fall, dass eine Regierung dann nicht einmal der eigenen Stimmenmehrheit im Parlament sicher ist, sieht Artikel 86 vor, dass sie ein wenig nach dem Vorbild des berüchtigten Artikels 49-3 der französischen Verfassung die Vertrauensfrage an die Verabschiedung eines Gesetzes knüpfen kann. Die Abgeordneten, die gegen den Gesetzentwurf stimmen wollen, riskieren dann die Auflösung des Parlaments und den Verlust ihres liebgewonnenen Mandats.

In ihrem liberalen Staatsverständnis zieren sich die Autoren des Verfassungsvorschlags jedes Mal bei der Gewährung positiver Rechte, die über die negativen Rechte der bürgerlichen Freiheiten des19. Jahrhunderts hinausgehen. Die soziale Sicherheit soll weiterhin bloß von ihren Prinzipien her durch Gesetz geregelt werden, aber der Staat soll noch immer kein universelles Recht auf Kranken- und Altersversicherung gewährleisten, vielleicht eine der höchsten zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Das Streikrecht wird nicht gewährleistet, sondern weiterhin nur indirekt anerkannt, indem seine Ausübung durch Gesetz organisiert werden soll. Ins Geschäftsmodell der erst 2003 gegründeten Universität passt auch nicht, dass die Verfassung die Freiheit der Forschung gewährleisten würde; die in Artikel 33 vorgesehene Lehrfreiheit bezieht sich wohl zuerst auf unkatholische Privatschulen.

Dafür soll auf Vorschlag des Staatsrats ein Artikel fünf die Teilnahme an der europäischen Inte­gration zum Verfassungsauftrag gemacht werden. Was immer das auch angesichts einer unsicheren Entwicklung der EU-Politik heißen mag – außer dem möglichern Ausschluss EU-kritischer Parteien von der Parteienfinanzierung. Gegenüber der aktuellen Verfassung und dem ursprünglichen Revisionsentwurf ist nun die Möglichkeit verschwunden, dass Luxemburg einem Land den Krieg erklärt. In Zeiten, da Kriege, als humanitäre Interventionen getarnt, weder beginnen, noch aufhören, scheint das überflüssig. Aber die Geschichte der beiden Weltkriege lehrt, wie die Nachkriegssouveränität des Kleinstaats auch davon abhängt, dass er einer Besatzungsmacht den Krieg erklärt, um sich den ewigen Vorwurf der Kollaborationsbereitschaft zu ersparen.

Romain Hilgert
© 2024 d’Lëtzebuerger Land