Mois de la photo

Kunst der Vermittlung

d'Lëtzebuerger Land du 13.03.2015

Erinnerungen sind abhängig von Individuen und kollektive Erinnerungen deshalb eine trügerische Angelegenheit. Im Zeichen dieser Subjektivität des Erinnerns steht die von Café Crème asbl kuratierte Ausstellung Memory Lab I: Ré-écritures im Mudam, die den Europäischen Monat der Fotografie in Luxemburg eröffnet. Unter dem Motto Photography Challenges History steht in der fünften Auflage das Verhältnis zwischen individuellen Blickpunkten und Ereignissen kollektiver Relevanz im Mittelpunkt. Im ersten von vier dieser Memory Labs beschäftigen sich sechs Foto- und Videokünstler damit, wie Vergangenes in der zeitgenössischen Fotografie vermittelt wird.

Im Vorwort des Katalogs spricht Mitorganisator Frank Wagner von einem „sentimental turn“ in der zeitgenössischen Fotografie. Der objektive Wahrheitsanspruch der Fotografie, der stets auf wackligen Beinen stand, wird von einigen Künstlern durch eine Darstellung ersetzt, die von persönlichem Empfinden geprägt ist oder die Subjektivität des Mediums offen legt. Die Serie Iconographies von David Birkin zeigt beispielsweise Pressefotografien aus der Zeit des Kalten Krieges, die mit Retuschen und Anmerkungen der Bildredakteure versehen sind. Aus der Relation dieser Markierungen zum Motiv ergeben sich damals unbeabsichtigte, heute teils komisch wirkende Inhalte: eine kreuzförmige Markierung über dem Kopf des Ajatollah Chomenei oder eine eingezeichnete Schärpe über der Brust von Henry Kissinger. Diese Bearbeitungen verdeutlichen auf sehr anschauliche Weise die Prozesshaftigkeit der Fotografie und die mit jedem Bearbeitungsschritt zunehmende Inszenierung des Motivs.

Ebenfalls auf den prozessualen Charakter des Mediums bezieht sich Antony Cairns in seiner technisch interessanten Serie LDN, die aus Silbergelatine-Drucken auf Aluminium besteht und die Straßen von London zeigt. Die Filme wurden in mehreren Schritten entwickelt und dabei solarisiert, anschließend als Kontaktdrucke auf Aluminium überführt. Anstelle einer cleanen Re-präsentation erzeugt Cairns eine imperfekte, dafür umso faszinierendere Ré-écriture des Motivs, die neben ihrer invertierten Schwarz-Weiß-Darstellung durch verfremdende Flecken und Abdrücke Hinweise auf den subjektiven Bearbeitungsprozess gibt. Zwar erschließt sich der historische Gehalt der Straßenansichten nicht ohne weiteres; dass es sich bei Fotografie um ein mittelbares Medium handelt, wird jedoch deutlich hervorgehoben.

Eine weitere Tendenz in der zeitgenössischen Fotografie ist der Rückgriff auf Archivmaterial, eine Ausprägung, die auch als postfotografische Richtung bezeichnet wird. Neben Birkin machen Adam Broomberg und Oliver Chanarin Gebrauch von existierenden Bildern und interpretieren diese neu. In Divine Violence kombinieren sie mitunter grausame Fotografien aus dem Archive of Modern Conflict mit Passagen aus Bibeltexten. Bedeutsam ist in diesem Werk das Verhältnis von Text und Bild, das neue inhaltliche Interpretationen für beide Medien generiert. Die Gegenüberstellung etwa der Passagen der Wandlung („this is my body“, „this is my blood“) mit der Aufnahme des abgetrennten Kopfs eines Selbstmordattentäters verstärkt diesen Effekt aufgrund der Drastik.

Auch für die augenscheinlich inhaltsleeren Bilder Tatjana Lecomtes spielt das Text-Bild-Verhältnis eine Rolle. Auf den Fotografien ihrer Serie Zement war ursprünglich der nach dem Krieg überbaute und somit aus dem kollektiven Gedächtnis entnommene KZ-Standort Ebensee abgebildet. Entsprechend der Auslöschung aus der Landschaft schnitt Lecomte diese Motive aus, sodass von den ursprünglichen Bildern nur ein schmaler, umlaufender Rand übrig blieb. Der herausgenommene Inhalt der Bilder erschließt sich also nur durch das Lesen des Begleittexts. Dienen Fotografien in der klassischen Reportage dazu, den Inhalt des Texts anhand festgehaltener Fakten zu verifizieren und zu illustrieren, ist hier das Verhältnis umgekehrt: Der Text illustriert das Bild und kompensiert so das ausgeschnittene Motiv. Einen ähnlichen Weg geht Gábor Ösz in Das Fenster, dem Video eines Bergpanoramas, das sich in der Information als reinszenierter Blick aus dem Panoramafenster von Hitlers Berghof in Obersalzbergs herausstellt.

Im Ganzen bietet Memory Labs I eine sehenswerte, weil vielfältige Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Subjektivität für die historische Überlieferung der jüngeren Geschichte. Dass Sentimentalität dabei keinesfalls mit Nostalgie gleichzusetzen ist, zeigt nicht zuletzt The Blue Train der Videokünstlerin Vera Frenkel, die eine persönliche Erinnerung ihrer Mutter an die Flucht vor dem Zweiten Weltkrieg zu einer Erzählung mit zeitgeschichtlicher Relevanz ausbaut.

Es geht in dieser Ausstellung natürlich nicht primär um die Dokumentation historischer Fakten, sondern um eine künstlerische Auseinandersetzung mit der Produktion, der Transmission und der Perzeption des Mediums. Dabei spielt es für die Wirkung der Bilder eine große Rolle, ob die subjektiven Erinnerungen und Emotionen des Betrachters angesprochen werden. Die Ausstellung liefert in dieser Hinsicht eine ausgewogene Verbindung persönlicher und kollektiver Erinnerungen.

Memory Lab I: Ré-écritures; bis 31. Mai im Mudam; mittwochs bis freitags 11-20 Uhr, samstags bis montags 11-18 Uhr; www.mudam.lu. Weitere Informationen über den Mois de la photographie: www.europeanmonthofphotography.org.
Boris Loder
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