Die Vorbereitungen auf einen ungeordneten Austritt Großbritanniens aus der EU dürfen nicht zu gut laufen

Auf der Schmerzskala von eins bis zehn

d'Lëtzebuerger Land du 18.01.2019

Ooorrder! Am Dienstagabend gegen 19.38 Lokalzeit in London war es soweit. Der Sprecher des Unterhauses brüllte ein grimmiges „Ooorrder!“ durchs Parlament, bevor er das Ergebnis der vor Weihnachten verschobenen Abstimmung über das Austrittsabkommen Großbritanniens aus der EU verlas: 202 dafür, 432 dagegen – „The Noes have it!“ Die größte Niederlage einer britischen Regierung im Parlament in über hundert Jahren nahm Premierministerin Theresa May ohne die geringste Gemütsregung hin. Manierlich bot sie an, sich am Mittwoch Zeit für Debatten zu nehmen, falls die Vertrauensfrage gestellt werde – was Oppositionschef Jeremy Corbyn mit viel künstlicher Aufregung tat –, und gab ansonsten äußerlich keinen Hinweis darauf, dass sie registrierte, was um sie geschah. Am Mittwoch verbrachte das Parlament einen weiteren Tag mit Debatten, die sich inhaltlich von denen vom Vortag und vor Weihnachten nur durch den dringlicher werdenden Hinweis unterschieden, dass durch solche Debatten wertvolle Zeit verlorengehe. Den Vertrauensantrag am Mittwochabend überlebte Theresa May mit 325 zu 306 Stimmen weil ihre Feinde in den eigenen Reihen ihr diesmal die Treue hielten. Vor dem Jahreswechsel hatten die Brexit-Hardliner versucht, May über eine parteiinterne Abstimmung abzusetzen, um sich ihrer als Premierministerin zu entledigen und am Vortag zu ihrer Erniedrigung beigetragen, indem sie gegen das Abkommen stimmten. Aber Neuwahlen – und damit einen Machtverlust der Konservativen – wollen sie lieber nicht riskieren.

Dadurch herrscht bis aus Weiteres Chaos statt Ordnung im britischen Parlament. Vor allem gibt es kein Vorankommen, so lange den Abgeordneten keine Alternativen zu Mays Austrittsabkommen zur Abstimmung vorgelegt werden. Am Montag, kündigte sie an, solle das Parlament wieder zusammenkommen, um über eine „amendable motion“ zu entscheiden. Wie weit die Abänderungsanträge gehen werden, bleibt abzuwarten. Denn um das Gesprächsangebot der Premierministerin anzunehmen, verlangen die Spitzen der Oppositionsparteien, dass alle Möglichkeiten auf den Tisch müssen: eine Verschiebung des Austrittsdatums, ein mögliches Verbleiben in der Zollunion, wenn nicht in der EU, eine neuerliche Volksbefragung zu diesen Themen, um die Verschiebung zu begründen. Vor allem fordern sowohl Labour als auch Liberale Demokraten und die Schottische Nationalpartei als Vorbedingung von May, dass sie einen ungeordneten Austritt, einen „No-Deal“ nicht zulassen wird (siehe auch Seite 7).

Fasten your seat belt! Den Bedingungen kann May nicht zustimmen, ohne dadurch ihre eigene, konservative Partei zu spalten beziehungsweise die Union der Nationen zwischen Engländern, Walisern, Schotten und Nordiren im Königreich. Dass sie eine Spaltung der Tories um jeden Preis verhindern will, erklärt, warum sie erst monatelang behauptete, kein Deal sei besser als ein schlechter Deal und dann „rote Linien“ für die Verhandlungen mit der EU zog, die ein zum Scheitern verurteiltes Abkommen zum Ergebnis hatten. Darum stieg in den vergangenen Tagen die Wahrscheinlichkeit, dass Großbritannien die EU ohne Abkommen verlässt und deshalb wurden die Vorbereitungen für den Ernstfall verstärkt.

„Our internal preparations to limit the damage in case of a No-Deal shall go ahead in full steam“ twitterte Staatsminister Xavier Bettel (DP) nach dem Brexit-Votum am Dienstag. Am vergangenen Freitag traf sich das Comité interministériel de coordination de la politique européenne (CICPE) zur Koordination der Vorbereitungsmaßnahmen. Anders als andere EU-Mitgliedstaaten wird Luxemburg kein Omnibus-Gesetz verabschieden, um durch einen Brexit gerissene Lücken zu stopfen. Vielmehr wird jedes Ministerium seine eigenen Texte vorbereiten, um für den 29. März – noch gilt dieser als Stichdatum – gewappnet zu sein. Wahrscheinlich wird die Regierung dies bewerkstelligen, ohne den Notstandsartikel der Verfassung zu bemühen. Denn bereits am heutigen Freitag könnte eine erste Reihe möglicher Gesetzesänderungen im Regierungsrat vorgelegt werden, wie Außenminister Jean Asselborn (LSAP) am Mittwoch in Interviews meinte. Dabei wird es vor allem um den Verbleib der Briten in Luxemburg gehen, denen nach dem EU-Austritt Großbritanniens für einen beschränkten Zeitraum die gleichen Rechte zugesichert werden, die sie jetzt genießen, und denen dafür ganz konkret die notwendigen Papiere ausgehändigt werden müssen. Diesen Zeitraum können sie nutzen, um ihre Situation neuzuordnen, beziehungsweise die Regierung kann während dieser Zeit gleiche Rechte für die Luxemburger in Großbritannien verhandeln. Einige dieser Briten arbeiten im öffentlichen Dienst oderdaran angeschlossenen Institutionen. Etwa Englischlehrer oder Lehrer an englischsprachigen Schulen. Damit sie ihre Stelle am 29. März nicht automatisch verlieren, ist eine Gesetzesanpassung notwendig. Auch bei der Anerkennung der Hochschulabschlüsse muss für die Pre-Bologna-Ära nachgebessert werden, beispielsweise im Bereich Medizin.

Volle Kraft zurück! Noch binnen eines Monats sollen dem Kabinett Land-Informationen zufolge weitere „Notfallgesetze“ für die Finanzbranche vorgelegt werden. Dass sie noch nicht fertig sind, liegt weniger an mangelnder Vorbereitung im Finanzministerium als daran, dass noch nicht abschließend abzusehen ist, welche Notfallmaßnahmen die EU-Kommission branchendeckend und EU-weit aktivieren wird und wo im Endeffekt auf nationaler Ebene nachgearbeitet werden kann und muss. Denn der „Dampf“ mit dem Luxemburg, die anderen EU-Staaten und Brüssel an der Notfallplanung arbeiten, ist strategisch wohl dosiert.

Eine zu gute Notfallplanung würde den Druck von den Briten nehmen, einem Austrittsabkommen zuzustimmen. Dass sie dies tun, ist aber für die EU nicht nur von Interesse, um Chaos in den Handelsbeziehungen oder im Transport von Personen und Waren zu vermeiden, sondern weil die Briten sich im Abkommen bereit erklären, rund 39 Milliarden Pfund zur Trennungsmasse beizutragen, auf die Brüssel und die anderen Mitgliedstaaten ungerne verzichten möchten, weil sie ansonsten ihre eigenen Beiträge zum EU-Haushalt erhöhen müssen. Ohne Austrittsabkommen aber meinen die Briten nichts zahlen zu müssen, weil das Geld nirgendwo eingeklagt werden könne. Deshalb will die Intensität der Schmerzen, die ein Austritt verursacht, auf einer Skala von eins bis zehn gut eingeteilt sein, wobei ein Verbleib in der EU schmerzfrei wäre, ein Austritt mit Abkommen spürbare, aber auszuhaltende Pein verursachen soll und ein ungeordneter Austritt große Schmerzen, die allerdings noch durch die Aussicht auf eine enge Zusammenarbeit in der Zukunft wie eine Zollunion oder ein Freihandelsabkommen gelindert werden können müssen. Denn da unter diesen Schmerzen vor allem wirtschaftliche Folgen, also solche auf den Handel, zu verstehen sind, und einem Handel jeweils mindestens zwei Parteien angehören, ist unvermeidlich, dass es auf beiden Seiten wehtut.

Faut reste groupir Wie es in der Praxis aussieht, wenn die Brexit-Medikamente ausgeteilt werden, zeigt das Beispiel der Cargolux. Schon vergangenen November und Dezember, als die EU-Kommission mit der Notfallplanung begann, wandten sich erst der Luxemburger Infrastrukturminister François Bausch (Grüne) an den Chef-Unterhändler Michel Barnier und dann Staatsminister Xavier Bettel an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, um auf die besondere Situation der Frachtfluggesellschaft hinzuweisen. Der Notfallplan der EU-Kommission sieht vor, dass sich die EU und Großbritannien gegenseitig Flugrechte bis zur vierten Freiheit einräumen, damit Personen- und Warenluftverkehr nach einem ungeordneten Austritt nicht einbrechen. Fluggesellschaften dürften demnach zwischen zwei Punkten A und B, dies- und jenseits des Kanals Passagiere und Fracht auf- und abladen. Die fünfte Freiheit aber ist durch die Notfallpläne nicht gedeckt. Sie würde es erlauben, von einem dritten Ziel C kommend oder dorthin unterwegs, bei A oder B einen Zwischenstopp zum Auf- und Abladen von Waren einzulegen und dann weiterzufliegen. Durch den Hinweis, dass die Cargolux, deren Destinationsnetz auf die Nutzung der fünften Freiheit aufgebaut ist, das Recht braucht in Großbritannien Zwischenstopps zum Ein- und Ausladen einlegen zu können, ließ sich EU-Kommissionspräsident Juncker nicht erweichen. Vergangene Woche antwortete er Xavier Bettel schriftlich: „Les mesures d’urgence ne peuvent reproduire l’accord de retrait ni les avantages que procure l’appartenance à l’Union, pas plus qu’elles ne peuvent compenser le manque de préparation des parties prenantes ou remédier à toutes les conséquences négatives d’un retrait désordonné. […] Dans ce contexte, notre proposition relative au transport aérien n’est pas, et ne devrait pas être, conçue pour faire face à toutes les conséquences d’une absence d’accord. […] Pour ce qui est des négociations bilatérales avec le Royaume-Uni, la Commission invite tous les États membres à respecter l’unité des l’UE-27, à défendre une approche coordonnée et à s’abstenir de mener des négociations bilatérales. Dans la plupart des cas, ces accords ne seraient pas compatibles avec le droit de l’Union. Nous considérons en outre que des accords de ce type ne permettraient pas de parvenir aux résultats que nous pouvons obtenir par une action concertée au niveau de l’Union européenne et qu’ils ne feraient que compliquer le développement des relations futures entre l’UE et le Royaume-Uni.“ Eine Vorgabe, die bedeutet, dass Luxemburg auch in Finanzfragen nicht aus dem von Brüssel vorgegebenen Rahmen tanzen kann, um die Beziehungen mit der City zu retten.

So führt die Notfallplanung zu Kompetenzgerangel zwischen Kommission und Mitgliedstaaten. Denn gegenüber dem Land sagte François Bausch, dass er Übergangsbestimmungen ohne fünfte Freiheit nicht akzeptabel findet. Auch weil die Kommission dadurch die Verhandlung von Flugrechten an sich ziehe, die die Mitgliedstaaten bisher individuell aushandeln konnten – wenn es kein besonderes Verhandlungsmandat für die Kommission gab. Auch an anderer Stelle werden die Folgen des britischen EU-Austritts bereits spürbar, bevor er vollzogen ist. Etwa im Vorschlag des EU-Kommissars Pierre Moscovici (siehe Seite 8), die Einstimmigkeit bei Entscheidungen in Steuerfragen abzuschaffen. Wären die Briten noch im Boot, hätte er sich das wohl kaum getraut.

Michèle Sinner
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