Straßensicherheit

„Nationale Priorität“

d'Lëtzebuerger Land du 31.01.2014

„Eine enorm hohe Toleranzgrenze“ für Autounfälle gebe es in Luxemburg, stellte die Parteisprecherin der Grünen, Sam Tanson, auf dem Neujahrempfang ihrer Partei vor zwei Wochen schockiert fest. Obwohl die Zahl der Verkehrstoten vergangenes Jahr neue Rekordhöhen erreichte, machten alle weiter, als sei nichts geschehen, so ihr Fazit.

Nicht ganz alle, die Association des victimes de la route erhielt für ihren Einsatz für mehr Sicherheit im Verkehr vergangene Woche den Janusz-Korczak-Preis 2013. Die Festrede hielt Kannerschlass-Verwaltungsratspräsident Christian Kmiotek, ebenfalls Sprecher bei den Grünen: Man vergebe den Preis an die AVR, „für ihre Bemühungen, „die Zivilgesellschaft und die Politik aufzuklären, dass Verkehrstote und Verkehrsunfälle keine Fatalität sind, sondern ein Ausdruck unseres Lebensstils – und demnach auch verhindert werden können“, unterstrich er.

Das Timing war nicht unschuldig: Denn mit François Bausch verantwortet erstmalig ein grüner Politiker das Transportministerium. Die Verkehrssicherheit müsse „nationale Priorität“ werden, versprach Bausch auf dem traditionellen Empfang der Autohändlerverbände zum diesjährigen Autofestival. Zumindest seine Kommunikationsstrategie zeigt erste Erfolge: Kaum eine Zeitung, die nicht über Straßen(un)sicherheit berichtet. Im Jahr 2012 verunglückten 34 Menschen auf Luxemburgs Straßen. 2013 war mit 45 Verkehrstoten ein neuer trauriger Rekord erreicht. Die Ursachen hierfür sind vielfältig und reichen von überhöhter Geschwindigkeit über riskantes Überholen, mangelnde Fahrpraxis und Alkohol sowie andere Drogen am Steuer.

Mehr Rückschlüsse erlauben die Unfallstatistiken nicht: „Wir selbst haben überhaupt keine Statistiken. Wir gehen aber davon aus, dass die polizeiliche Unfallstatistik nur etwa ein Drittel der tatsächlich ereigneten Unfälle erfasst“, erklärt Paul Hammelmann, Präsident der Sécurité routière, im Land-Gespräch. Anders als etwa in Frankreich, wo die Association securité jedes Jahr detaillierte Statistiken veröffentlicht und die Regierung am Ende des Jahres eine Bilanzpressekonferenz zur Straßensicherheit ausrichtet, müssen Luxemburger Journalisten die Daten erst umständlich erfragen oder im Tätigkeitsbericht des Transportministeriums nachlesen, der bei Erscheinen meist schon überholt ist.

Allen europäischen Anstrengungen, die Zahl der Toten und Verletzten auf den Straßen der EU zu senken, und allen Politikerversprechen, dabei zu helfen, zum Trotz – eine nationale Priorität war die Straßensicherheit hierzulande nie. Und zunächst sah es so aus, als würde das mit der neuen Regierung so bleiben. Das Koalitionsprogramm ist in dem Punkt vage: Außer dass mehr automatische Geschwindigkeitskontrollen kommen und der Punkte-Strafkatalog verschärft werden soll, steht dort zur Straßensicherheit kaum etwas. „Wir waren extrem enttäuscht, als wir das Koalitionsprogramm zum ersten Mal lasen“, erinnert sich Hammelmann. Mit seinem Frust hielt der Präsident nicht hinterm Berg, in einem Interview nannte er die Zahl von 13 fest installierten Radaren, die die alte Regierung versprochen, aber nie aufgestellt hatte, „lächerlich“ und „populistisch“. Vom neuen Transportminister verlangte er mehr Einsatz.

Inzwischen haben sich AVR und Sécurité routiére mit François Bausch getroffen: Statt der 13 seien nun 30 Radare im Gespräch, berichtet Hammelmann. Das sei noch immer nicht genug; man brauche mindestens 70, im Idealfall sogar 225 Radare, so Hammelmann, und er verweist auf eine ausländische Studie.

„Mobile Radarkontrollen erzeugen psychologisch einen nachhaltigeren Effekt“, begründet François Bausch seine Zurückhaltung gegenüber fest installierten Radaren. In seiner Rede vor Vertretern der Automobilbranche hatte Bausch „eine Reihe von Maßnahmen“ angekündigt, um den „Negativ-Trend“ auf Luxemburgs Straßen zu stoppen. Welche genau, soll eine Arbeitsgruppe ergründen, der Vertreter aller wichtigen Akteure angehören: Verkehrssicherheits-Vereinigungen, Straßenbauverwaltung, Umweltverwaltung, Autohändler und andere. „Ich will mit allen Betroffenen so schnell wie möglich über konkrete Lösungen reden“, so Bausch. Am Dienstag traf sich die Gruppe zum ersten Mal. Bis Sommer sollen die Vorschläge gesammelt und ein Aktionsplan erstellt werden. Dabei kann sich die Regierung auf Vorarbeiten der Vorgängerregierung stützen. Ein Inventar neuralgischer Orte mit erhöhter Unfallgefahr wurde bereits 2010 erstellt und bildet nun die Diskussionsgrundlage in der Arbeitsgruppe für weitere Sicherheitsmaßnahmen. Einige wurden seitdem ergriffen, Verkehrsberuhigungen an notorischen Gefahrenstellen beispielsweise, wie dem Kreisverkehr Gluck in Gasperich.

Wer mehr Verkehrssicherheit haben möchte, wird aber noch andere Punkte überdenken müssen: etwa die Fußgängerübergänge. „Wir haben zu viele davon und viele sind zudem schlecht gesichert“, ist Paul Hammelmann überzeugt. Nach mehreren schlimmen Unfällen wurden etliche Zebrastreifen nachgebessert, doch es gibt im ganzen Land noch schlecht beleuchtete Fußgängerübergänge. Zu oft steht das Schild, das vor dem Zebrastreifen warnen soll, nur einen halben Meter vor dem Übergang. Inwiefern schlechte Beschilderung mitursächlich für tödliche Unfälle ist, lässt sich aus den Statistiken allerdings nicht klar ersehen. Obwohl bei jedem tödlichen Verkehrsunfall Polizisten der Spurensicherung den Unfallort prüfen und vermessen, werden diese Berichte, anders als bei Zug- oder Flugzeugunglücken, nicht automatisch an die Straßenbaubehörde weitergeleitet.

„Warum nutzt der Staat diese Berichte nicht systematisch als Grundlage für Verbesserungen der Verkehrssicherheit?“, fragt Hammelmann, ein erklärter Anhänger des so genannten Shared space ist (siehe Seite 30). Dieses Konzept umzusetzen, erfordere jedoch eine andere Kultur im Straßenverkehr. „Wir müssen erst einmal den Sittenverfall auf unseren Straßen stoppen“, so Hammelmann. Die Kosten für mehr Sicherheitsmaßnahmen (laut einer Machbarkeitsstudie würden allein die 13 zuvor veranschlagten Radare mitsamt der Informatik, dem Personal und den Büros mit rund elf Millionen Euro zu Buche schlagen) dürften jedenfalls kein Grund sein, nichts zu tun. „Man könnte andersherum auch aufrechnen, welcher Schaden der Volkswirtschaft jedes Jahr dadurch entsteht, dass Menschen auf unseren Straßen sterben.“

Ines Kurschat
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