Die einstige Minettmetropole kämpft um ihren Ruf. Verstärkung erwarten die Verantwortlichen der Stadt Esch sich nun von dem neuen Inhaber eines 2013 gegründeten Unilehrstuhls

Nie wieder Proletennest

d'Lëtzebuerger Land du 07.05.2021

2010 herrschte in Esch/Alzette Aufbruchstimmung. Rund um die Hochöfen und inmitten anderer Ruinen der Stahlindustrie wuchs die Wissensstadt Cité des Sciences allmählich empor und die Lokalpolitiker/innen hegten noch die Hoffnung, dass neue Betriebe die Uni mit ihren Wissenschaftler/innen und Student/innen als potentielle Kundschaft entdecken und sich in ihrer Minettmetropole niederlassen. Die Escher LSAP-Bürgermeisterin Lydia Mutsch zeigte sich zuversichtlich, dass dank des „flotte Mix vu Léieren, vu Studéieren, vun Unisgebaier an och vu Mobilier urbain, vun Terrassen, vu Fräizäitarealen“ in Belval ein lebendiges Viertel wachsen würde, in dem, anders als im restlichen Luxemburg, nicht schon am frühen Abend die Bürgersteige hochgeklappt werden. Die Uni selbst war noch jung und hatte nicht das Renommee, das sie heute für sich beansprucht. Um die gegenseitige Skepsis zu überwinden, schlug sie den neuen Gastgebern als Zeichen der Annäherung eine Partnerschaft in Form eines Lehrstuhls vor.

Social Business 2013 entschied der Schöffenrat aus LSAP und Grünen, die von den Arbeiten des Mikrofinanz-Erfinders und Nobelpreisträgers Muhammad Yunus beeinflusste Chaire universitaire en entrepreneuriat social et management social für eine Laufzeit von fünf Jahren (2013 bis 2017) mit insgesamt einer Million Euro zu unterstützen. Als Gegenleistung für ihr „Sponsoring“ erhoffte sich die Stadt Esch, dass sie die Forschungsarbeit dieses Lehrstuhls für ihre Wirtschafts- und Sozialentwicklung gewinnbringend nutzen könne. Am 19. April 2013 stimmte der Gemeinderat dem Vorschlag von Lydia Mutsch fast einstimmig zu. Déi Lénk zeigte sich skeptisch gegenüber Yunus' Konzeption von Social Business und eines „anderen“ Kapitalismus, doch am Ende enthielt sich nur die KPL (der DP-Rat war nicht anwesend). Die meisten Gemeinderäte waren stolz auf ihren Lehrstuhl, denn nun konnte Esch/Alzette in einem Atemzug mit (privaten) Forschungssponsoren wie TDK, Atoz, SES, Deutsche Bank, ArcelorMittal oder der Unesco genannt werden.

Zwei Jahre dauerte es, bis der Lehrstuhl besetzt war. Im März 2015 wurde der italienische Urbanismusprofessor Massimo Bricocoli zum Inhaber ernannt. Nach nur neun Monaten kehrte er Ende 2015 aus „einer Reihe persönlicher Gründe“ nach Mailand zurück, wie er auf Land-Nachfrage bestätigt. Aus Forscherkreisen heißt es, er habe sich in Luxemburg entwurzelt gefühlt und sich nicht richtig einleben können. Ein Jahr später wurde der Posten neu ausgeschrieben. Der Soziologe Morgan Meyer, der den Wettbewerb gewann, zog aber eine Stelle als Forschungsdirektor am renommierten Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris dem Lehrstuhl in Esch/Alzette vor.

Nach den Kommunalwahlen im Oktober 2017 lösten CSV und DP die LSAP als neue Koalitionspartner der Grünen ab. Seit 2013 hat sich in Esch viel getan. Mit der Erschließung der Industriebrachen Arbed Esch-Schifflingen/Quartier Alzette (Agora) und Lentille Terre Rouge/Rout Lëns (Iko Real Estate) werden in den kommenden zehn bis 15 Jahren zwei neue Stadtviertel für 15 000 bis 20 000 Bewohner/innen gebaut. Auf dem Crassier Terre-Rouge soll langfristig ein grenzüberschreitender Stadtteil entstehen, durch den die Bevölkerung der Stadt Esch (von heute 36 000) auf bis zu 70 000 Einwohner anwachsen könnte. Weil auch die Ausrichtung der Uni sich inzwischen geändert hat und der Schwerpunkt nun stärker auf Geographie und Stadtplanung als auf Sozialwissenschaften liegt, benannte sie den Lehrstuhl 2019 in Chaire en architecture et urbanisme de la Ville d'Esch um. Die Laufzeit wurde bis 2022 verlängert. Das kam der Stadt entgegen, die es begrüßt, dass die urbane Entwicklung nun wissenschaftlich begleitet wird, wie der Erste Schöffe Martin Kox (déi Gréng) gegenüber dem Land erklärt. Als Unistadt müsse Esch schließlich auch mit der Uni zusammenarbeiten.

First Contact Ende vergangenen Jahres wurde Markus Miessen zum Inhaber des Lehrstuhls ernannt, der inzwischen Chair in urban regeneration heißt. Der 43-jährige Architekt und Stadtplaner wohnt zurzeit noch in Berlin, zieht aber bald mit seiner Familie in die Nähe der rund 220 Kilometer von Esch/Alzette entfernten Stadt Mannheim um. Am 1. Januar hat er seine Stelle offiziell angetreten, doch die Kontaktaufnahme mit den Escher Bürgern gestaltet sich bislang noch schwierig. Das liegt vor allem an den Corona-Beschränkungen. Seine Lehrtätigkeit hat er schon aufgenommen, aber an der Uni läuft zurzeit noch alles digital. Der Tageblatt-Reporter Philip Michel, der ihn Anfang Februar interviewte und mit dem er eine Leidenschaft für lange Rennradtouren teilt, habe ihn vergangene Woche durch Esch geführt, ihm wichtige Orte gezeigt und lokale Persönlichkeiten vorgestellt, erzählt Miessen im (Webex)-Gespräch mit dem Land. Die Künstler des Kollektivs Ferro Forum, das Projekte auf der Brache Esch-Schifflingen durchführt, habe er ebenfalls bereits kennengelernt. Im August wird er eine Wohnung im Brillviertel beziehen, wo er vier Tage die Woche übernachten will. Auch mit dem Escher Schöffenrat hat er sich bereits getroffen. Dabei ging es insbesondere um das mutmaßlich schlechte Image der Stadt. Esch war erst kürzlich in einem Marco Polo Reiseführer (liebevoll) als „ruppiges Proletennest“ bezeichnet worden, was zu heftigen Diskussionen und einer möglicherweise überstürzten Reaktion der Gemeindeführung geführt hatte und offenbar ein kollektives Trauma hinterlassen hat. Vor diesem Hintergrund wolle er nachhaltige Formen der Identitätsvermittlung schaffen und sie kontextualisieren, damit die Leute verstehen, wo bestimmte Realitäten herkommen und wie man sie unter Umständen beeinflussen könne, erklärt Miessen.

In einer ersten Phase gehe es ihm aber nun darum, „Connections“ zu den Bürgern der Stadt herzustellen. Dafür möchte er in der Alzettestraße eine kleine Dependance eröffnen, wo er und seine beiden Mitarbeiterinnen (eine Doktorandin und eine wissenschaftliche Assistentin, die im Juni und September ihre Arbeit aufnehmen werden) ein Büro haben und Live-Veranstaltungen organisieren können. Trotz des hohen Leerstands in der Alzettestraße scheint es aber bislang unmöglich, dort ein geeignetes Lokal zu einem für die Gemeindeverwaltung bezahlbaren Preis zu finden. Laut Martin Kox können Besitzer/innen leerstehender Ladenlokale fehlende Mieteinnahmen in ihre Geschäftsbilanz integrieren. Das habe zur Folge, dass Eigentümer/innen ihre Lokale lieber leer stehen lassen, als die Miete zu senken. Dieses Problem müsse auf nationaler Ebene gelöst werden, betont Kox. Alternativ zu dem Laden will Miessen ab dem 1. September virtuelle Plattformen zu lokaler und regionaler Identität sowie einen Podcast schaffen, die an die Oral History-Projekte des Luxembourg Centre for contemporary and digital history (C2DH) und von Esch 2022 anknüpfen sollen.

Inselmentalität Obwohl die vergangenen fünf Monate nicht ausreichten, um sich eindringlich mit allen Problemen der Stadt Esch auseinanderzusetzen, hat Miessen aber schon eine Vorstellung davon, was er in den kommenden beiden Jahren erreichen will. So möchte er gegen die „Inselmentalität“ in Belval vorgehen und den Anschluss des Uni-Campus an das Stadtzentrum verbessern. Damit niemand ausgeschlossen wird, will er den Stadtraum insgesamt heterogener gestalten. Mit der nostalgischen Vorstellung vieler Escher/innen, früher sei die Alzettestraße schöner und besser gewesen, möchte Miessen aufräumen und neue Nutzungskonzepte finden. Das Problem seien nicht die fehlenden Parkplätze, denn in dieser Hinsicht könne die Einkaufsstraße nie mit den Shopping-Malls in Foetz oder Belval mithalten, erklärt der Stadtplaner. Stattdessen müsse ein Mentalitätswechsel stattfinden, um die ökologische Transition bei der Umgestaltung der Stadt zu berücksichtigen.

„Der Stadtwandel ist ein Zusammenspiel aus sozialen und räumlichen Veränderungen, die man vorsichtig kuratieren muss“, sagt Markus Miessen und denkt dabei besonders an partizipative Prozesse, die die Menschen an der Umgestaltung beteiligen. Allerdings werde Partizipation häufig nur als plakatives Bild genutzt, um den Bürger/innen „vorzugaukeln“, dass man sie mitnehme, oder als eine Art der politischen Legitimation benutzt, um so weiterzumachen, wie man es eh schon machen wollte. Sowohl bei der Planung der Rout Lëns als auch (in geringerem Maße) bei den Vorbereitungen zur Neunutzung der Brache Esch-Schifflingen wurden genau jene Kritikpunkte bereits von anderen Akteur/innen vorgebracht. Wirkliche Partizipation gehe nie schnell und sei mit wahnsinnig viel Arbeit verbunden, warnt Miessen. Es sei daher wichtig, dass die Austauschprozesse ständig laufen, auch wenn nicht gerade eine Entscheidung über ein Großprojekt anstehe. Miessen sieht sich als Mediator oder Vermittler zwischen Bürgern und Politik, der durch Aneignung von lokalem Wissen in der Lage sein kann, Planungsprozesse nachhaltig zu beeinflussen und die Entscheidungsträger/innen auf politischer Ebene beratend zu begleiten. Während das in Großstädten wie Frankfurt/Main oder Glasgow, wo er vorher tätig war, schwierig gewesen sei, könne eine nachhaltige Beeinflussung im vergleichsweise kleinen Esch durchaus gelingen.

Erwartungen Dementsprechend hoch sind die politischen Erwartungen an den neuen Stadtplaner. Der linke Abgeordnete und ehemalige Escher Gemeinderat Marc Baum bemängelt, dass der Lehrstuhl nicht schon früher neu besetzt wurde. „Wenn man sieht, was in puncto Partizipation auf den Brachen Esch-Schifflingen und Lentille Terre Rouge so vor sich gegangen ist, fragt man sich, wo die Uni mit ihrem Sachverstand und ihrer Analysefähigkeit bislang war“, moniert Baum. Seiner Ansicht nach hätten Forscher schon in die Ausarbeitung des umstrittenen Flächennutzungsplans (PAG) eingebunden werden müssen. Die Oppositionsrätin und frühere Bürgermeisterin Vera Spautz (LSAP) kritisiert, dass Miessen noch nicht dem Gemeinderat vorgestellt wurde und befürchtet, dass er nicht wisse, an wen er sich wenden soll, um in Esch Fuß zu fassen. Gleichzeitig warnt sie vor politischer Einflussnahme, wie sie 2018 bei der Europäischen Kulturhauptstadt Esch 2022 passiert sei.

Dem Schöffenrat aus CSV, DP und Grünen geht es vor allem darum, dass Esch/Alzette sein Image als „ruppiges Proletennest“ los wird, erklärt Martin Kox. Dazu müsse sich die Sozialstruktur der Stadt verändern, was mit einer Transformation des öffentlichen Raums einhergehen soll. Konkret versteht er darunter die Aufwertung des Stadtzentrums, das später die räumliche Verbindung zwischen den beiden neuen Stadtvierteln Rout Lëns und Quartier Alzette (der Name soll noch überdacht werden) herstellen soll. Zu diesem Zweck soll Miessen mit dem Architektenbüro WW+ zusammenarbeiten, das mit dem Projekt Claire schon vor drei Jahren die Wiederbelebung der Alzettestraße mittels Bürgerbeteiligung in Angriff genommen hat. Mit der Uni habe die Stadt aber nun einen neutralen Partner, um nicht mehr bei jedem Projekt auf ein Planungsbüro zurückgreifen zu müssen. „Im Unterschied zu privaten Büros muss Markus Miessen kein Geld verdienen“, meint Kox.

Ein besonders aktuelles Thema in Esch/Alzette (und in ganz Luxemburg) ist der Wohnungsbau. Wie hoch die Mietpreise sind, hat Miessen in den vergangenen Wochen am eigenen Leib erfahren. Eine bezahlbare Wohnung hat er erst mit der Unterstützung von Ferro-Forum-Mitgliedern gefunden. Das Problem könne nur über zusätzlichen sozialen Wohnungsbau und die Förderung neuer Wohnformen gelöst werden, sagt Miessen. Die restriktive WG-Politik, die die Stadt Esch mit dem neuen Flächennutzungsplan (PAG) umsetzen will, kann er nicht nachvollziehen (insgesamt sind rund 30 Beschwerden gegen den PAG beim Innenministerium eingegangen, zu denen der Gemeinderat in den nächsten Wochen Stellung beziehen muss). „WGs sind ja nicht umsonst entstanden, sondern weil es zu wenig Wohnraum gibt. Wenn man sie als Möglichkeit wegnimmt, weiß ich gar nicht, wie man in Esch weitermacht. Selbst Doktoranden und Postdoktoranden können sich nichts mehr leisten. Wie sollen denn Menschen mit niedrigen Löhnen noch eine Unterkunft finden?“, fragt der Architekt.

Verwertungslogik Als stadtplanerischer Dienstleister der Stadt Esch sieht Markus Miessen sich nicht. Die Zusammenarbeit mit der Gemeindeverwaltung sei aber interessant, um eine konkrete Anbindung an bestehende Themen und Probleme zu bekommen. Er wolle zwar unabhängig arbeiten, aber nicht in einem luftleeren akademischen Raum. Erfahrene Wissenschaftler warnen vor einer „Verwertungslogik“ in der Politik. Wenn es um Urbanismus geht, herrschten in Luxemburg ganz eigene Gesetze, sagt ein Forscher, der namentlich nicht genannt werden will. Weil Grund und Boden oft mit Partikularinteressen verknüpft sind, sei unabhängige und kritische stadtplanerische Expertise in vielen öffentlichen Verwaltungen unerwünscht.

Unter Bürgermeister Paul Helminger (DP) hatte die Stadt Luxemburg bereits 2007, als die Uni noch in Limpertsberg und Walferdingen angesiedelt war, einen Lehrstuhl für Stadtentwicklung gesponsert. In diesem Rahmen bauten der Urbanist Markus Hesse und der Raumplaner Tom Becker damals die Austauschplattform Cellule nationale d’information pour la politique urbaine (CIPU) auf (aus der die Uni sich inzwischen wegen mutmaßlicher politischer Bevormundung zurückgezogen hat). An konkreten wissenschaftlichen Projekten zu Integration und Stadtteilplanung hätten die Verantwortlichen der Stadt Luxemburg aber nur wenig Interesse gezeigt, bestätigt Hesse gegenüber dem Land. 2012 lehnte der damalige Bürgermeister der Stadt Luxemburg, Xavier Bettel (DP), den Antrag auf eine Verlängerung des Lehrstuhls ohne Begründung ab.

Luc Laboulle
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