„Zicke-zacke“, ruft Cover-Sängerin Sandy Botsch ins Mikrofon. „Hoi, hoi, hoi“, antwortet die Menge im Stall auf der Fouer. Ehemalige Schulfreundinnen klatschen in die Hände, Berufskollegen genießen Bratkartoffeln, zwei frankophone Freunde aus Niger trinken Bier, Marjoline Frieden sitzt ohne ihren Lebensgefährten Luc Frieden rechts von der Bühne. Die Hälfte der Anwesenden versteht keine deutschen Schlagertexte, aber man grölt spontan mit. Später am Abend tritt der aus Koblenz angereiste Party-Schlagersänger Julian Sommer auf. Der 26-Jährige wurde vor zwei Jahren mit dem Hit Dicht im Flieger bekannt. Es ist ein Mitsinglied: „Alles egal, denn mein Kopf macht nur la-la-la-la, la-la-la-la.“
Deutsche Schlagermusik sorgt auf ein paar Nischenevents für Stimmung. Deutschsprachige Musik allgemein erreicht in Luxemburg keine Massen. Unter den Top-50-Songs auf Spotify wird für Luxemburg ein deutschsprachiger Titel angezeigt– Bauch, Beine, Po von Shirin David. Zwei französische Rapper haben ebenfalls ihr Publikum gefunden, Leto und Bolide Noir, doch englische Titel dominieren die Charts. Wird von jungen Menschen deutsche Musik gehört, ist es vor allem Rap-Musik, wie Lehrpersonal berichtet: Der Deutsch-Rap von Capital Bra, Apache, Trettmann und Sido schafft es auf ihre Playlisten. 200 Meter vom Stall entfernt hängen die Spielzeiten von Filmen im Utopia aus: Der deutsche Film Alles Fifty Fifty mit Moritz Bleibtreu wirbt mit Strandhintergrund neben einem Plakat, das die französische Schauspielerin Isabelle Huppert als Frau eines Gefängnisinsassen zeigt. Umgeben sind die Beiden von englischsprachigen Filmstars.
Hierzulande setzt sich deutsche Popkultur nicht in der Breite durch. Das Deutsche hat in einem anderen Bereich eine hohe Sichtbarkeit und unabdingbare Funktion: als Schriftsprache in Printpublikationen. Mit durchschnittlich 121 300 täglichen Leser/innen bleibt das Luxemburger Wort unangefochten die meistgelesene Zeitung. Das hält die Plurimedia-Studie von Ilres aus dem Jahr 2022 fest. Zählt man allerdings Berichte von der Internetseite RTL.lu mit ihren 200 000 täglichen Aufrufen hinzu, kann man feststellen, dass luxemburgische Publikationen Anklang finden. Unter den sechs Wochenzeitungen liegen die deutschsprachige Revue und der Télécran vorn; auf Platz drei taucht die portugiesischsprachige Contacto auf und auf Platz vier das zweisprachige Lëtzebuerger Land. Hohe Anteile erzielt das Deutsche auch beim Fernsehkonsum: Zwar schalten täglich 47 000 Personen TF1 ein, womit der französische Privatsender die größte Reichweite besitzt, zusammengerechnet erreichen jedoch ARD und ZDF 80 000 Einwohner. Für viele Luxemburger/innen bleibt Deutsch weiterhin ein wichtiger Bezugspunkt beim Medienkonsum.
In den Bibliotheken ist die deutsche Sprache ebenfalls stark vertreten. Im Durchschnitt führen die zwölf öffentlichen Bibliotheken knapp 60 Prozent deutschsprachige Bücher, während das Französische mit 25 Prozent weit zurückbleibt, ebenso wie das Luxemburgische mit einem Anteil von circa sieben Prozent. Auch im eher frankophon geprägten Süden zeigt sich dieses Verhältnis in der Escher Stadtbibliothek. Auf Nachfrage teilte deren Direktorin Tamara Sondag mit, dass sie 15 000 deutsche Titel führen und 45 Prozent der Ausleihen auf diese entfallen, dicht gefolgt von Ausleihen französischer Werke mit 43 Prozent. Allerdings könnte sich der Trend in den kommenden Jahren wandeln, da die Direktorin der Escher Stadtbibliothek beobachtet, dass sich die Jugend zunehmend für englische Bücher interessiert. Ein großes Interesse am Englischen stellt darüber hinaus der eBook-Verbund der öffentlichen Bibliotheken fest; im Vergleich zu deutschen Titeln, werden englische doppelt so häufig bestellt. Auch aus der Bibliothek des Escher Jongelycée heißt es, englische Werke seien mittlerweile am beliebtesten während deutsche hinter französischen rangieren. Anders gelagert ist der Sprachenanteil in den Buchhandlungen: Im Alinéa führt die Sprache des südlichen Nachbarlandes die Liste an, was auch für das Büchergeschäft Promoculture und die Ernster-Läden in Luxemburg-Stadt gilt. Das deckt sich mit einer Ilres-Befragung aus dem Herbst 2023, wonach 78 Prozent der über 1 000 Befragten angaben, französische Bücher zu lesen, und 67 Prozent deutsche. Im Jahr 2001 lag der Anteil der deutschsprachigen Leser noch bei 79 Prozent.
Dass die deutsche Sprache im öffentlichen Raum, am Arbeitsplatz oder im Privaten kaum gesprochen wird und ihre Anwendung im multilingualen Kontext zunehmend schrumpft, verdeutlichte der Bericht Une diversité linguistique en forte hausse, den der Statec diesen Frühling veröffentlichte. Englisch wird am Arbeitsplatz mittlerweile häufiger gesprochen als Deutsch (das einem Anteil von 22 Prozent entspricht); an erster Stelle rangiert das Französische. Darüber hinaus sprechen zwei Drittel der Bevölkerung weder im öffentlichen Raum noch am Arbeitsplatz Deutsch. Die meisten deutschsprachigen Einwohner wohnen – wenig überraschend – im Osten des Landes; in Mertert erreicht der Anteil zehn Prozent, in Niederanven acht Prozent. Deutsch als Umgangssprache am Arbeitsplatz kristallisiert sich ebenfalls entlang der Grenze zu Deutschland heraus: In Biwer erreicht der Anteil 56 Prozent und in Grevenmacher 50 Prozent – vermutlich liegt dies an deutschen Grenzgängern sowie Kunden von der anderen Seite der Mosel. Auch die Grenze zu Ostbelgien sticht in der Statistik hervor und verzeichnet einen Anteil von über 40 Prozent, wie es auch für Ettelbrück der Fall ist – hier arbeiten verhältnismäßig viele Deutsche und deutschsprachige Belgier im Krankenhauswesen. Von den hierzulande Lebenden, die Deutsch als Hauptsprache angeben, sind 2,7 Prozent belgischer Nationalität und 80,8 Prozent deutscher. Vermutlich fallen unter den Restanteil nicht nur Naturalisierte, Schweizer und Österreicher, sondern auch Eheleute mit einem gemischten Sprachen- und Nationalitätenhintergrund, die sich auf Deutsch als Konsenssprache festgelegt haben. Die Zahl der Personen, die Deutsch als Hauptsprache angeben, ging zudem zurück; waren es 2011 noch 16 400, sind es 2021 nur noch 14 700. Der Sprung ins Luxemburgische ist den 2011 Befragten inzwischen vielleicht nicht sonderlich schwergefallen.
Obwohl die deutsche Sprache in der Breite der Gesellschaft zunehmend eine Randposition einnimmt, spielt sie im schulischen Kontext eine zentrale Rolle: Alphabetisiert wird auf Deutsch. Ab nächster Septemberwoche werden wieder rund 65 Prozent der Schüler/innen eingeschult, die zu Hause kein Luxemburgisch sprechen. Nur an vier Pilotschulen werden seit 2022 Schüler/innen auf Französisch alphabetisiert, wobei sie gemeinsam mit auf Deutsch alphabetisierten Kindern an Unterrichtseinheiten teilnehmen, in denen auf Luxemburgisch gesprochen wird. Erste Ergebnisse zeigen, dass portugiesischsprachige Kinder und Kinder aus romanophonen Familien dadurch eine höhere Lesefreude aufweisen als ihre Referenzgruppen. Auch die Eltern entwickeln einen positiveren Bezug zur Schule, da sie sich in der Lage fühlen, ihre Kinder auf ihrem Bildungsweg zu unterstützen, erläutert Sonja Ugen vom Lucet, die das Bildungsmonitoring durchführt. Gegenüber dem Land gibt die studierte Psychologin außerdem an, dass ein neuer Bildungsbericht für Dezember 2024 in Druck gehen wird. Darin wird zu lesen sein, die Gesamtkompetenz der Schüler/innen habe sich seit 2011 kaum verändert, jedoch korrelieren Leistungsunterschiede stark mit den sprachlichen Biografien und der sozioökonomischen Herkunft. In einer Untersuchung zur frühkindlichen Erziehung fand das Lucet zudem heraus, dass Kinder, die zu Hause nur Französisch oder Portugiesisch sprechen, im deutschen Hörverstehen schlechtere Ergebnisse erzielen als im luxemburgischen. Bei luxemburgisch sprechenden Kindern ist das nicht der Fall, die Sprachaneignung des Deutschen fällt Luxemburger Muttersprachlern demnach leichter, so die Schlussfolgerung.
Fast 50 000 Schüler/innen befinden sich derzeit in einem 13 Jahre andauernden Deutsch-Curriculum. Deutschlehrer/innen berichten, dass vor allem im technischen Lyzeum viele Schüler/innen angeben, außerhalb der Schule kaum in Kontakt mit der deutschen Sprache zu kommen, was ihre Motivation, die Sprache zu erlernen, einschränke. Das hatte konkrete Auswikungen während der Pandemie, wie das Lucet in einer Studie festgestellt hat: Im Lockdown hat sich die Diskrepanz der Sprachkenntnisse verschärft. Auch in Luxemburg-Stadt treffe man im Classique auf frankophone Expat-Kinder, bei denen die Bereitschaft, Deutsch zu lernen, gering sei, da die deutsche Grammatik als undurchschaubar empfunden werde, so eine Lehrerin aus dem Athénée. Hinzu kommen regionale Unterschiede: Der Bezug zum Deutschen ist im Norden und Osten des Landes stärker verankert. Neben Schreib- und Hörfähigkeiten beschäftigt jedoch insbesondere eine Frage die Deutschlehrer/innen: „Wéi kréie mer eis Schüler/innen rem un d’Liesen?“ Das Interesse an Sprache und Literatur bleibt zunehmend hinter den MINT-Fächern zurück. Die Jugend träume von Start-up-Gründungen und Bitcoin-Käufen.
Das Urteil über die deutsche Sprache fällt bei Jüngeren tendenziell jedoch positiver aus. Zwar bewerteten von 2 000 Befragten, von denen 86 Prozent luxemburgische Muttersprachler sind, viele die deutsche Sprache als die unmelodischste der drei Amtssprache, doch das trifft vor allem auf ältere Befragte zu, wie es eine Untersuchung der Germanistin Regina Stölben ergab. Schüler/innen bewerten die deutsche Sprache darüber hinaus zu 59 Prozent als „(sehr) weich“, jedoch gilt: Je höher der Bildungsabschluss, desto seltener wird Deutsch als „(sehr) weich“ eingestuft. Die Bewertungen hingen außerdem vom geografischen Wohnort ab. Im Kanton Grevenmacher, also entlang der deutschen Grenze, wurde Deutsch positiver bewertet als im Zentrum und Süden des Landes.
„Deutsch in Luxemburg ist derzeit in einer interessanten Position. Es hat eine traditionell starke Stellung in Bereichen wie dem Mediensektor und der schulischen Alphabetisierung, zugleich ist es aber am stärksten von Veränderungen im Gefüge der Mehrsprachigkeit betroffen“, analysiert Christoph Purschke, Linguist an der Universität Luxemburg, die aktuelle Situation. Deutsch stehe dabei in doppelter Hinsicht unter Druck: „Durch den Ausbau des Luxemburgischen – besonders die Entwicklung einer gesellschaftlich getragenen Schriftlichkeit – fällt die Rolle der deutschen Sprache als geschriebene Brückensprache zunehmend weg.“ Insofern könnte man auch die Frage aufwerfen: „Werden künftig vermehrt luxemburgische Texte in der Tagespresse gedruckt? Wird das Land bald seine Interviews während der Transkription nicht mehr auf Deutsch übersetzen?“ Die deutsche Sprache werde zudem durch die wachsende Bedeutung von Englisch und Französisch – angesichts der demografischen Entwicklung – auf dem Luxemburger Sprachenmarkt zunehmend marginalisiert, so der Linguistikprofessor.
Viele Fragen seien aber noch offen: „Beispielsweise, inwieweit sich die Standardisierung durchsetzen wird. Das Luxemburgische weist ein großes Variationsspektrum im Gesprochenen und Geschriebenen auf. Zwar wird mittlerweile viel auf Luxemburgisch geschrieben und gelesen, etwa in den sozialen Medien, aber das sagt wenig darüber aus, wie hoch die formale Schreibkompetenz ist. Vor allem fehlt aktuell der politische Wille zu einer umfassenden schulischen Vermittlung der Sprache.“ Auch sei nicht klar, wie weit sich die digitale Unterstützung für die Sprache entwickelt: „Zwar transkribiert die Spracherkennungs-App Lux-ASR, die der Linguist Peter Gilles entwickelt, schon Debatten im Parlament, und ChatGPT-4 gibt Text in relativ richtigem Luxemburgisch aus, aber die Unterstützung für Luxemburgisch auf Computern und Mobilgeräten ist noch sehr limitiert“, so Purschke
In politischen Debatten, der Kammer und politischem Informationsmaterial hat sich mittlerweile die Kombination aus französischen und luxemburgischen Texten durchgesetzt. Parlamentarische Anfragen beginnen immer häufiger mit „Här President“ und enden mit „mat déiwem Respekt“. Bei den Wahlen im Oktober 2023 war zu beobachten, dass das Luxemburgische in parteipolitischen Broschüren das Deutsche verdrängt hat. Der Gemengebuet wird in einigen Kommunen ganz selbstverständlich auf Luxemburgisch verfasst, ebenso wie die Cactus-Werbung im Wort. Auffallend ist zudem, wie die luxemburgische Sprache innerhalb der Luxemburgensia-Sparte in der Nationalbibliothek an Terrain gewinnt: Aus ihren Zahlen gehen für 1970 nur 36 luxemburgischsprachige Werke hervor, gefolgt von einer Steigerungskurve, die mittlerweile bei etwa 350 Werken liegt. Der Zuwachs lässt sich jedoch vor allem durch Kinderbuch-Übersetzungen erklären, wie der BNL-Bibliothekar und Autor Yorick Schmit erklärt. Die Nationalbibliothek ist verpflichtet, alle in Luxemburg publizierten Dokumente zu archivieren, und dabei wurden für das Jahr 2022 1 100 Dokumente auf Französisch und 1 000 auf Deutsch archiviert. Der BNL-Bibliothekar Schmit sagt, beide Sprachen würden sich seit Jahrzehnten die Waage halten, was auch daran liege, dass von staatlichen Behörden publizierte Dokumente zumeist in beiden Sprachen verfasst werden. Der Anteil an literarischen Werken sei in beiden Sprachen ebenfalls seit Jahren stabil und ähnlich hoch, wobei hier wohnhafte Autoren prosaische Texte bevorzugt auf Deutsch schreiben und Gedichte eher auf Französisch. Ruft man die eLuxemburgensia-Seite auf, liegt der Anteil an digitalisierten deutschen Dokumenten mit 63 Prozent deutlich vorn. Diese Zahl ist allerdings nur begrenzt aussagekräftig, da die meisten Zeitschriften nur bis ins Jahr 1980 digitalisiert sind; dennoch zeigt diese vorläufige Statistik den hohen Stellenwert des Deutschen in der luxemburgischen Medienlandschaft.
Etwas überrascht zeigte sich das luxemburgische Feuilleton und hiesige Linguisten, als vor zwei Jahren die erste Auflage des neuen Dudens Luxemburger Standarddeutsch herauskam. Denn eigentlich gingen Luxemburger davon aus, das in Luxemburg gesprochene Deutsch sei Hochdeutsch und enthalte keine lokalen Varianten. Der Herausgeber Heinz Sieburg, Professor für germanistische Linguistik und historische Sprachwissenschaft des Deutschen, sieht das jedoch anders. Das Deutsche habe in Luxemburg Eigenheiten entwickelt, die es in anderen deutschsprachigen Ländern nicht gebe. Sieburg nahm in seine Duden-Ausgabe Wörter wie „Bijouterie“, „Commodo-Antrag“, „Chamberwahl“, „Parking“, „Rummel“, „Rieslingkönigin“, „Sekurist“, „Telearbeit“, „Velo“ und „vulnerabel“ auf – aber erst, nachdem er sie mehrmals in luxemburgischen Zeitungen aufgespürt hatte. Christoph Purschke war seinerseits ziemlich erstaunt, als er zum ersten Mal in Luxemburg das Wort „Rundtischgespräch“ hörte. Seiner Meinung nach müsste man die Recherche von Sieburg auch auf den gesprochenen Wortschatz und phonetische Merkmale ausweiten: „Luxemburger sprechen im Deutschen einige Laute anders aus, so klingt das ‚a‘ häufig recht dumpf. Auffällig ist auch die Satzmelodie sowie die fehlende Unterscheidung von ‚ch‘ und ‚sch‘.“ Allgemein stelle die Linguistik eine Diskrepanz zwischen der Relevanz deutschsprachiger Medien und Literatur sowie dem gesprochenen Deutsch fest – es komme laut Purschke in Luxemburg fast nie vor, dass man sich auf Deutsch unterhalte – außer mit Deutschen.