Staatsmacht will nicht nur sehen, sondern auch gesehen werden. Kleine Überwachungsdrohnen hätten es auch getan, aber ein Zeppelin NT macht mehr her: Mit einem 75 Meter langen und 17 Meter hohen Luftschiff suchten Polizisten im vergangenen Jahr zu Ostern das deutsche Ufer des Bodensees nach illegalen Treffen von drei oder mehr Menschen ab. Verstöße gegen Corona-Vorschriften seien kein Kavaliersdelikt, erläuterte ein Polizeisprecher; da müsse man alle Register ziehen, nämlich „von A wie Abstand bis Z wie Zeppelin“. Dagegen regte sich Protest: Schatten und Gebrumm des dicht über Häuser und Gärten schwebenden Ungetüms seien erschreckend, um nicht zu sagen übergriffig. Seither wurden Kontrollflüge in niedriger Höhe nicht mehr wiederholt.
Das Zeppelin-Museum in Friedrichshafen ist ein guter Ort, um über Staaten und ihre Grenzen ins Grübeln zu geraten. Mit Luftschiffen fing am Bodensee vor 120 Jahren der Luftverkehr an, der alte Schlagbäume und Grenzzäune lächerlich machte. Gleichzeitig begann der Luftkrieg, der auch fern der Frontlinien Bunker und Zivilschutz erzwang. Militärisch waren die gasgefüllten, leicht abzuschießenden Himmelswürste nicht besonders brauchbar; bereits im Ersten Weltkrieg wurden sie von schnelleren, noch tödlicheren Flugzeugen verdrängt. Trotzdem galten Zeppeline lange Zeit als deutsche Staatssymbole, und die Nazis unternahmen damit gerne Propagandafahrten.
Heute verlaufen vor der Tür des Museums die Außengrenzen von EU und Nato. Wo genau, weiß allerdings niemand: Der Bodensee wurde mit Satellit, Lidar und Echolot auf den Zentimeter vermessen – Deutschland, Österreich und die Schweiz haben aber nie festgelegt, ob und wo darin die verschiedenen Staaten anfangen oder aufhören. Ebenfalls in Sichtweite liegt ein weiteres Polit-Kuriosum: Liechtenstein hat Armee, Bahn, Luftraumüberwachung und andere Aufgaben an die Nachbarländer outgesourct. Die Verfassung der 39 000-Einwohner-Nation ist einzigartig: Die Souveränität teilen sich Fürst und Volk, und die einzelnen Gemeinden haben das Recht, aus dem Staat auszutreten.
Für die Ausstellung Beyond States hat das Zeppelin-Museum die eigenen Sammlungen zur Luftfahrtgeschichte und zur süddeutschen Kunst durchforstet. Zehn Installationen von zeitgenössischen Künstlern bereichern die Schau, die um die traditionellen Merkmale von Staatlichkeit kreist: Staatsgebiet, Staatsgewalt, Staatsbürgerschaft. Eigentlich hätte sie im Mai 2020 eröffnet werden sollen. Die Corona-Pandemie ließ dann zwar Grenzfragen brandaktuell werden, sorgte aber dafür, dass in Deutschland bis heute alle Museen geschlossen wurden.
Das gegenüberliegende Schweizer Ufer, wo Veranstaltungen mit Schutzmaske weiterhin besucht werden dürfen, ist zwar nur acht Flugminuten entfernt, aber das Zeppelin-Museum wollte nicht auswandern. Außerdem nimmt es am Forschungsprojekt „Future Museum“ des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts IAO teil, das „innovative neue Technologien“ für Kulturtempel entwickeln soll. Also wurde der Großteil der Ausstellung ins Internet verlegt: Seit Herbst experimentieren die Friedrichshafener Kuratoren nun tapfer mit Facebook und anderen digitalen Formaten.
Tutorium und Debatte Unter dem Titel Debatorial hat das Museum im Internet eine eigene „Diskurs-Plattform“ eingerichtet: Gesprächsrunden mit Forschern, Interviews mit Künstlern, Vorträge als Podcasts, Videofilme, interaktive Landkarten mit Archivmaterial und Hintergrundinformationen. Das Publikum ist zur Beteiligung eingeladen, besonders natürlich bei Live-Streams. Eine der bisherigen Erfahrungen: Sechsstündige Online-Konferenzen sind selbst für hartgesottene Youtube-Fans eine Herausforderung. Mittlerweile werden verdaulichere Happen mit einer Länge von jeweils bis zu rund einer Stunde angeboten. Als letzter Programmpunkt des digitalen Veranstaltungsreigens ist für Anfang Juni ein „Weltuntergangs-Workshop“ geplant.
Wie die Ausstellung ist auch das Debatorial in fünf Schwerpunkte gegliedert: „Drinnen oder draußen?“ behandelt das Thema Staat und Grenzen. Dass sich die Regierungen der Welt bisher nicht auf eine Abgrenzung des Weltraums einigen konnten, überrascht nicht wirklich. Unter „Ernste Spiele?“ geht es um Nationen und Nationalismus. „Was wenn?“ spricht besonders die Prepper-Szene an, die sich auf Staatsversagen und den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet. „Mittel zum Zweck?“ wirft einen kritischen Blick auf Staatsgewalt und Staatssymbole. „Wir?“ befasst sich mit Staatsbürgerschaft und Staatenlosigkeit.
Vorgestellt werden zum Beispiel Erkenntnisse der noch recht jungen Disziplin „Border Studies“. Die Schlussfolgerungen zur Corona-Krise sind bislang allerdings nur mäßig originell: Katarzyna Stoklosa von der Süddänischen Universität fordert gegen das Wiederaufflammen alter Vorurteile, etwa in der deutsch-luxemburgischen Grenzregion, „mehr Denken in regionalen Konzepten, weniger in nationalen“. Peter Ulrich von der Viadrina-Uni in Frankfurt/Oder hat herausgefunden, dass die Seuchenbekämpfung zu einer „reflexartigen Verdichtung bestehender Grenzen“ geführt hat. Abruptes „Re-Bordering“ verursache Chaos, da ein Drittel der EU-Bevölkerung in Grenzregionen lebt. In Zukunft seien „neue transnationale Maßnahmenräume“ sinnvoll. Die Krise eröffne nun die Chance, „europäische Solidarität auf euroregionaler Ebene neu zu praktizieren“.
In einem Podcast empfiehlt Herfried Münkler, ein Berliner Politikwissenschaftler und Berater der deutschen Bundesregierung, künftig im Pandemie-Fall „kluge, resiliente Regime“ in „autarkiefähigen Wirtschaftsräumen“ zu schaffen, statt einfach nur traditionelle Staatsgrenzen zu schließen. Neue, „intelligentere Grenzen“ werden zwar von Flamen, Norditalienern oder Katalanen schon lange gefordert Münkler denkt aber nicht an bösen Separatismus oder gar Populismus, sondern nur an die temporäre Abschottung von „nationenübergreifenden Mikroregimen“. Die Schweiz könne dabei nicht als Vorbild dienen, denn Europa sei für Neutralität zu groß.
Vermutlich droht eine großflächige Ausbreitung demokratischer Experimente auch gar nicht. Götz Hermann von der Universität Paderborn beobachtet die „Smart Border“-Projekte der EU: Bis 2022 soll die technische Überwachung des kontinentalen Schengen-Raums perfektioniert werden, zum Beispiel mit Datenbanken wie Etias, die automatisiert und beschleunigt unerwünschte Personen aus dem Strom der Reisenden herausfiltern. Dabei komme es zu einer „Deterritorialisierung der Grenzen“: Menschen werde je nach Herkunft, sozialem Status, Lebensweise, Arbeit oder anderen Merkmalen ein Risiko-Score zugewiesen – was dann zu ganz „unterschiedlichen Grenzerfahrungen“ führe.
Kunstwerke in Quarantäne Für manche Installationen wäre eine Wiederöffnung des Museums dringend notwendig. Tag X von Henrike Naumann zum Beispiel ist ein Ladengeschäft für Prepper: Möbel und Haushaltsgeräte, die sich im Ernstfall rasch zu Waffen umfunktionieren lassen. Call a Spy der Künstlergruppe Peng!Kollektiv würde analogen Museumsbesuchern erlauben, geleakte Telefonnummern von Geheimdienstagenten anzurufen und sich persönlich nach dem Stand der Überwachung zu erkundigen.
Im Vorteil sind jetzt Künstler, die immer schon mit Videos und Internet gearbeitet haben. Lorenzo Pezzani und Charles Heller haben für ihren Film Forensic Oceanography den Untergang von Flüchtlingen im Mittelmeer rekonstruiert: Grenzschutz kann tödlich sein. Das von James Bridle entwickelte Browser-Add-On Citizen Ex greift eine Idee von US-Geheimdiensten auf: Da die NSA keine US-Bürger überwachen darf, wird anhand von Computer-Lokalisierung und aufgerufenen Webseiten die wahrscheinliche Staatsbürgerschaft der Internetnutzer berechnet. Bislang haben die allermeisten Menschen die „algorithmische Staatsbürgerschaft“ der USA. Um die kulturelle Dominanz der amerikanischen Internetkonzerne zu brechen, empfiehlt Bridle, „lokaler zu surfen“.
Gleich mehrere Künstler beschäftigen sich mit dem Traum, in staatenlose Gefilde auszubrechen. In ihrem Projekt The Seasteaders dokumentieren Jacob Hurwitz-Goodman und Daniel Keller libertäre Versuche, auf hoher See schwimmende Plattformen zu besiedeln. Simon Denny ließ sich ebenfalls von der im Silicon Valley beliebten Ideologie inspirieren: Um sein Brettspiel Founders zu gewinnen, muss man gegen Beamte und andere Parasiten kämpfen, sich aus verfallenden Wohlfahrtsstaaten erst nach Neuseeland, dann aufs offene Meer retten, schließlich Mond und Mars kolonialisieren.
Wer nun glaubt, die unklaren Grenzverhältnisse auf dem Bodensee für steuerfreie Verkaufs- oder Wohnschiffe nutzen zu können, hat sich jedoch geschnitten. Das Gewässer wird von den Anrainerstaaten mehr oder weniger gemeinsam verwaltet; es interveniert einfach das jeweils nächste Boot oder Fluggerät einer Polizei. Ist vielleicht das nahe Liechtenstein ein Schlupfloch, wenigstens für reiche Grenzgänger? Von Vertretern des Staates dort wird das heftig dementiert, jedenfalls offiziell.
Was ist überhaupt ein Staat?
Guilherme Canever war irritiert, als er 2016 die Olympischen Spiele in Rio besuchte: Die Goldmedaille einer kosovarischen Judoka wurde mit der Nationalhymne und Flagge des Kosovo gewürdigt. Die Republik Kosovo aber wird von der brasilianischen Regierung nicht als Staat anerkannt, sondern als Teil Serbiens betrachtet. Darauf machte sich der Autor auf, das bizarre Universum der Staaten zu erkunden.
Die Uno und ihre Unterorganisationen zählen derzeit 193 unabhängige Staaten als Mitglieder, dazu kommen der Vatikan und Palästina als „Beobachter“. Großzügiger ist der Weltfußballverband: Bei der Fifa dürfen 211 Nationalverbände mitspielen. Die Internationale Organisation für Normung zählt sogar 269 ISO-Ländercodes. Daran orientieren sich zum Beispiel Nationalitäten-Kennzeichen für Autos, aber auch die 255 länderspezifischen Top-Level-Domains im Internet (etwa die Endung „lu“ für Luxemburger Webseiten). Auch wer ein US-Visum beantragt, kann sein „Ursprungsland“ aus mehr als 250 Optionen wählen.
Canever haben es vor allem 16 halbwegs funktionierende Länder angetan, die zwar Regierungen, Grenzen, Einwohner, WLAN und oft auch eigene Währungen haben – aber keine internationale Anerkennung als Staaten. In Taiwan, Abchasien oder Transnistrien zum Beispiel stieß Canever auf „freundliche Menschen, die ganz normal in Straßencafés sitzen“. Allerdings erfordere die Reise zu Non-Countries zuweilen besondere Planung und Vorbereitung. Was er unterwegs erlebt hat, berichtet der Weltenbummler im Youtube-Kanal des Zeppelin-Museums unter dem Titel „Unrecognized Nations – Travels to countries that do not exist“.