Working Poor: Luxemburg hat die zweithöchste Erwerbsarmut Europas

Gleich hinter Rumänien

d'Lëtzebuerger Land vom 12.07.2019

Dass es „im reichen Luxemburg“ Arme gibt, wurde jahrzehntelange hartnäckig als Spinnerei und Nestbeschmutzung abgetan. Erst nach der Stahlkrise in den Siebzigerjahren ließ die Regierung zur Berechnung des Garantierten Mindesteinkommens (RMG) die Zahl der Armen schätzen. Ähnlich verhält es sich bis heute mit den Erwerbsarmen, den Working Poor, die arbeiten und arm bleiben: Ihre Existenz wird im „Land mit dem höchsten Mindestlohn“ weiter bestritten.

Laut dem Bericht In-work poverty in Europe des European Social Policy Network lebten im Jahr 2017 EU-weit 20,5 Millionen Erwerbstätige in Haushalten, die arm oder von Armut bedroht waren. Das machten 9,4 Prozent aller Beschäftigten aus. Als armutsgefährdet gilt laut der 2003 eingeführten EU-Norm, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens in einem Land oder in der EU verdient.

Die Europäische Kommission hatte das European Social Policy Network im Juli 2014 gegründet, um Informationen über sozialpolitische Fragen bei den 35 EU-Staaten und Beitrittskandidaten zu sammeln. Es wird betrieben vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser), vormals Centre d’études, de populations, de pauvreté et de politiques socio-économiques (CEPS), der Firma Applica und dem Verein European Social Observatory (OSE) in Brüssel. Das Interesse der Kommission entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn um die europäische Exportindustrie auf dem Weltmarkt durchzusetzen, förderte sie kompromisslos den Konkurrenzkampf auf dem Kapital- und Arbeitsmarkt und opferte so Millionen Geringqualifizierte, Jugendliche, Arbeitslose und Arme als „Globalisierungsverlierer“.

Laut Berechnungen des European Social Policy Network lag der Anteil der Working Poor in Luxemburg mit 13,7 Prozent nicht nur deutlich über dem EU-Durchschnitt, sondern er war überhaupt EU-weit der zweithöchste, direkt hinter Rumänien mit 17,3 Prozent. In der Länderbeschreibung über Rumänien schreibt Luana Pop, dass der Europa­rekord ihres Landes darauf zurückzuführen sei, dass das Armutsrisiko der Selbstständigen und mitarbeitenden Familienangehörigen mit 55 Prozent doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt sei, was vor allem auf die fehlenden Arbeitsplätze in ländlichen Gegenden zurückzuführen sei.

Luxemburg wird aber nicht nur der zweithöchste Anteil von Erwerbsarmen in der EU bescheinigt. Zwischen 2012 und 2017 nahm der Anteil sogar um 3,4 Prozentpunkte zu gegenüber 0,5 Prozentpunkte im EU-Durchschnitt. Dies stellt EU-weit die zweithöchste Steigerungsrate dar. Nur in Ungarn stieg der Anteil der Working Poor mit 4,5 Prozentpunkten noch stärker.

Anders als in Rumänien sind aber hierzulande die Erwerbsarmen weniger Selbstständige und mitarbeitende Familienangehörige als Arbeiter und Angestellte: „Die Erwerbsarmutsrate von abhängig Beschäftigten war 2017 über dem Durchschnitt der 28 EU-Staaten (7,4 Prozent) in Spanien (11,5 Prozent), Türkei (12 Prozent) und Luxemburg (13,2 Prozent)“, heißt es im Bericht (S. 37). „Die Erwerbsarmutsrate von Leuten mit niedriger Qualifikation nahm am meisten in einer Ländergruppe (Spanien, Deutschland Litauen, Luxemburg und Bulgarien) zu, von +5,1 Prozentpunkte in Spanien bis +12,6 Prozentpunkte in Bulgarien“ (S. 29).

Von Armut betroffen sind vor allem Beschäftigte mit atypischen Arbeitsverträgen. Aber auch der Anteil der Armen an den Erwerbstätigen mit unbefristeten Vollzeitverträgen ist überdurchschnittlich: „Für Arbeiter mit unbefristeten Verträgen war die Erwerbsarmutsrate 2017 in der EU 5,8 Prozent. Die Rate war deutlich höher in Luxemburg (11,9 Prozent) und der Türkei (9,4 Prozent)“ (S. 37). Und: „Die Erwerbsarmutsrate von Vollzeitbeschäftigten lag 2017 für die 28 EU-Staaten bei 7,7 Prozent. Die Länder an der extremen Spitze dieser Rate hatten Erwerbsarmutsraten um die zwölf Prozent (Luxemburg, Türkei und Rumänien)“ (S. 37).

Die Europäische Union nennt etwas missverständlich „Arbeitsintensität“, wie viele Monate die Mitglieder eines Haushalts im Laufe eines Jahrs erwerbstätig sind. Unter sechs Monaten gelten sie statistisch nicht als Erwerbsarme, sondern als Arme. „Die Erwerbsarmutsrate von Arbeitern in Haushalten mit sehr hohe Arbeitsintensität lag 2017 bei 5,1 Prozent in den 28 EU-Staaten. Doch in Ungarn, Estland, Luxemburg und Rumänien ist die Erwerbsarmutsrate in dieser Gruppe viel höher als im Rest der Europäischen Union“ (S. 43).

Überdurchschnittlich in der Europäischen ­Union ist vor allem die Erwerbsarmut bei Jugendlichen bis 24 Jahre. „Das Risiko der Erwerbsarmut ist viel höher für junge Leute in Estland, Spanien, Dänemark und Luxemburg“, heißt es in der Studie (S. 28). Zwischen 2012 und 2017 sei das Armutsrisiko bei den bis 24-Jährigen in Luxemburg sogar um 9,8 Prozentpunkte gestiegen. Das Gleiche gilt für die 55- bis 64-Jährigen: „Das Risiko ist überdurchschnittlich groß in Portugal, Griechenland, Luxemburg und besonders Rumänien“ (S. 28). Die Zunahme der Erwerbsarmut unter älteren Beschäftigten „war am deutlichsten in Ungarn (+6,5 Prozentpunkte) und Luxemburg (+8,7 Prozentpunkte)“ (S. 29). „Andererseits ist der Anteil der Einpersonenhaushalte in Erwerbsarmut in Rumänien und Luxemburg viel höher als im Rest Europas.“ Das Risiko der Erwerbsarmut für Alleinerziehende „war deutlich höher in Luxemburg, aber auch der Slowakei und Spanien als im Durchschnitt der 28 EU-Staaten“ (S. 42).

Im Länderbericht Luxemburg zur Studie des European Social Policy Network schreibt Robert Urbé von der Caritas: „Im Allgemeinen scheint die Erwerbsarmut in Luxemburg also verbunden mit: einer jüngeren oder älteren Altersgruppe angehören, Ausländer sein, ein niedriges Bildungsniveau erreicht haben, einen manuellen Beruf mit einem atypischen Vertrag (Teilzeit oder befristet) und niedrigem Lohn ausüben, abhängige Kinder haben, in einem Haushalt mit niedriger Arbeitsintensität leben“ (S. 9). Portugiesische Staatsangehöre haben ein drei Mal höheres Risiko der Erwerbsarmut, „weil Leute in manuellen Berufen das höchste Armutsrisiko tragen: Sie stellen mehr als die Hälfte der Armen, und Portugiesen üben häufiger einen manuellen Beruf aus“ (S. 8).

Doch das sozialpolitische Netzwerk im Auftrag der Europäischen Kommission bemüht sich, Erwerbsarmut als demografisches und sozialpolitisches, nicht aber als wirtschaftliches Problem darzustellen: Wenn Leute arbeiten und trotzdem arm sind, bedeutet das vielleicht, dass sie nicht genug verdienen. Wie der zu niedrige Preis ihrer Arbeitskraft in einzelnen Berufen festgelegt wird, erörtert die Studie aber nicht, obwohl sie feststellt: „In den meisten südeuropäischen Mitgliedstaaten (Griechenland, Bulgarien, Zypern, Italien und Spanien) sowie in Litauen, Ungarn, Luxemburg, Schweden, Lettland, Österreich und Frankreich, sind mehr als ein Fünftel der Niedrigverdiener arm“ (S. 33). Aber „unglücklicherweise sind die Informationen über den Zusammenhang zwischen niedrigen Löhnen und Erwerbsarmut spärlich“ (S. 32). „Unglücklicherweise sind die verfügbaren Informationen in den Gemeinschaftsstatistiken über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-Silc) über die Beschäftigung von Leuten in Erwerbsarmut beschränkt und nicht alle sind in den auf der Eurostat-Webseite zugänglichen Daten gezeigt“ (S. 30).

Erstaunlicherweise diskutiert auch der Länderbericht über Luxemburg nicht, wieso im Land mit dem höchsten Bruttosozialprodukt pro Einwohner und dem höchsten gesetzlichen Mindestlohn der Anteil der Working Poor am zweithöchsten ist. Dass die Rate der Erwerbsarmen in Luxemburg höher ist als in den meisten armen Ländern Osteuropas und den von der Krise besonders hart getroffenen Staaten Südeuropas ist darauf zurückzuführen, dass sie im Vergleich zum Medianeinkommen gerechnet wird, sie also große Einkommensunterschiede ausdrückt: Es gibt so viele Niedriglöhne und Arme, weil es so viele Reiche und Spitzenlöhne gibt.

Aber dadurch muss die Armutsquote nicht zwangsläufig falsch sein. Während das Armutsrisiko im Jahr 2016 bei 1 690 Euro lag, errechnete das Statec vor einem Jahr, dass eine Einzelperson wenigstens 1 996 Euro benötigte, um ein würdiges Leben zu führen: „Le seuil de risque de pauvreté est donc clairement trop bas pour vivre décemment au Grand-­Duché.“

Romain Hilgert
© 2024 d’Lëtzebuerger Land