Ist Kritik in Luxemburg möglich?

Wildwuchs, harmlos

Falscher Triumphsockel von Richtung 22 auf dem Kirchberg
Foto: Richtung22
d'Lëtzebuerger Land vom 29.09.2017

Beginnen wir doch mit der Rhetorik des kritischen Fickens. 1991 zog der Grandseigneur der Buchkritiker, Marcel Reich-Ranicki, im Literarischen Quartett über den neu erschienenen Roman von Martin Walser her. Ihm missfielen die schmuddelige Geschichte und die billigen Sexszenen, und irgendwann sprach er die famosen Worte in seinem unnachahmlichen Akzent: „Ich habe gefickt, wir werden ficken, ich bin gefickt, die Welt ist eine Fickerei: Das kann nun jeder schreiben.“

Damals wurde der Fick als rhetorisches Mittel in die Welt entlassen. Natürlich lässt sich darüber streiten, ob diese Koitus-Angeberei in den öffentlichen Diskurs gehört, ob es nötig ist, mit diesen vermeintlichen Derbheiten zu hantieren, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Tatsächlich sind diese Sprüche für manche aber ein probates konfrontatives Mittel, um Dissens auszudrücken.

2015 schrie ein Aktivist in den Niederlanden: „Fuck the King, fuck the Queen, and fuck the Royal House“. Zuerst wurde ihm ein Mahnbescheid von 500 Euro aufgebrummt, später ermittelte die Staatsanwaltschaft wegen Majestätsbeleidigung. Das Verfahren wurde nach einer Welle öffentlicher Empörung eingestellt. Bis dahin hatten sich die Polemiken schon unter dem Hashtag #fuckdekoning auf Twitter gesammelt, und auf der Fassade des königlichen Palasts in Amsterdam prangte, wir ahnen es, in Spray-Lettern: „Fuck de Koning“. Fick bringt immer nur mehr Fick hervor.

Wenn wir schon bei Kleinstmonarchien sind, darf der großherzogliche Hof nicht fehlen. Vor wenigen Monaten gab es hierzulande unsere ganz eigene „Féck“-Episode. Wer sie sich genauer anschaut, dem eröffnen sich jene Mechanismen, unter denen in Luxemburg ein Diskursphänomen wie Kritik operieren kann. Im Folgenden sollen nämlich die Strukturen von Kritik, ihre Möglichkeiten und Restriktionen, beispielhaft betrachtet werden. Welche Arten von Kritik sind in Luxemburg verpönt beziehungsweise erwünscht, welche möglich beziehungsweise unmöglich? Und welche Formen kann sie annehmen? Kritik wohlverstanden nicht als stammtischhaftes Meckern, sondern als intellektuelle Bemühung, als Versuch, die hiesigen Zustände zu sehen, zu beschreiben und einer skeptischen Prüfung zu unterziehen.

In seinem Buch Der wunde Punkt. Vom Unbehagen an der Kritik schreibt der österreichische Kulturjournalist Thomas Edlinger über (Schwund-)Formen heutiger Kritik. Ihm zufolge bewegen wir uns auf eine post-kritische Öffentlichkeit zu, und das unter anderem deswegen, weil wir an allem und jedem Kritik äußern, an einer patriarchalischen Sprache, an neo-kolonia­lem Bewusstsein, an der moralischen Inkonsequenz einer spätkapitalistischen Konsumpraxis. Wenn jede Haltung, auch die kritische selbst, kritisierbar ist, gerät Kritik in eine Schieflage, sie wird willfährig, schlimmstenfalls willkürlich. Aus dieser Situation heraus wachsen dann der Überdruss und die Unlust, überhaupt noch Einwände zu äußern beziehungsweise ­einzustecken.

Ende Juni feierte die „jonk lénk“ (nicht zu verwechseln mit „déi Lénk Jeunes“, der Jugendorganisation von Déi Lénk) in einem besetzten Haus ein „anti-nationales“ Fest, zu Unehren des Großherzogtums. Unter anderem wurde eine Rede gehalten; in guter alter und nach wie vor aktueller anti-kapitalistischer Hauruck-Manier hieß es: „Kapital heescht, sech de Loyer fir seng Wunneng net leeschten ze kënnen, Kapital heescht, Steier-Rulinge fir multinational Firmen.“ Die Philippika endete mit der Einpeitsch-Formel: „Féck de Grand-Duc! Féck Lëtzebuerg! Féck de Kapitalismus!“ Es war ein Anti-Vive wie aus dem Bilderbuch.

Zugegeben: Schlicht und schmallippig geht anders. Aber wenn man der Rede von „jonk lénk“ etwas ankreiden will, dann nicht ihre idealistischen, großspurigen Pointen, sondern die grobschlächtige Rhetorik, die insbesondere darin schwächelte, ex ante nicht bedacht zu haben, wie die öffentliche Reaktion ausfallen würde. Es sei denn, die eifrige Empörungsspirale, die auf die Veröffentlichung der Rede folgte, sollte in genau dieser Weise abgespult werden. Sachdienlich war die ganze Chose kaum.

Denn der triftigen Kritik und deren Verbreitung half die lawinöse Reaktion nicht. Am Ende war alles mit Schutt und Schrott zugetextet, mit
rtl.lu-Hobby-Kommentaren, Meinungsartikeln von Lëtzebuerg Privat und dem vermeintlich fach- und staatsmännischen Gerede von Politikern, die sich recht einfach ins rechte Licht rücken konnten als die Staatsräson, die sich wehrte gegen diesen billigen Affront. Und was war nochmal das eigentliche Anliegen der „jonk lénk“? Es war rasch gone with the wind, verlässlich weggefegt vom diskursiven Status Quo und der schalen kleinbürgerlichen Wut des Stacklëtzebuergers, die sich heute „Féck de Grand-Duc“ zuwendet und morgen dem geplanten Windrad auf dem Hügel da vorne.

Damit bricht der Fick aber längst nicht ab. Fast zeitgleich mit dem „anti-nationalen Fest“ veröffentlichten die Rapper Skinny J und Turnup Tun, unterstützt von Luk, einen Track. Er trägt den schlichten Titel Grand-Duc und kommt in einer sympathischen Mischung aus bubenhafter Auflehnung und schulbuchhafter Gangster-Rap-Pöbelei daher. Die Lines gehen unter anderem so: „Hunn de ganzen Dag näischt ze dinn, sou wéi den Heng. Féck den Haff, mee dat war net sou gemengt.“ Oder: „Ech si lo un der Muecht, de Jang huet et net fäerdegbruecht, sinn deen, dee lo fir dat Land lo suergt.“ Und zum Ende hin: „Monarchie gëtt zur Oligarchie, ginn ee Féck op Lëtze­buerg, squatte léiwer um Kotti Berlin.“

In seinem Buch spricht Edlinger von der „dekorativen Pseudokritik“; ihr Ziel sei es, „die Affirmation erträglich zu machen. Deshalb simuliert sie Kritik, wohl wissend, dass sie damit in Kreisen besser durchkommt, die für ihr gutes Gewissen beim Mitmachen ein wenig Kritik brauchen.“ Eine ähnliche Handhabung kritischer Sprechweisen lässt sich beim genannten Track feststellen. Mit der ausgestellten Lümmelhaltung ist es jedenfalls nicht weit her. Denn sie will ihr ureigenes Anliegen nicht realisiert sehen: dass die geübte Kritik zur Veränderung des Missstandes führt.

Das gilt für diesen juvenilen Gangster-Rap ebenso wie für Werke der Literatur, Theater- oder bildenden Kunst. Bei ihnen wird Kritik spaßeshalber simuliert, sie ist eine Übung, reine Formsache, einstudiert mit dem Ziel, sich mit der Aura des Abweichlers, Rabauken und Andersdenkenden zu bepinseln. In Härtefällen können solche Manöver gar eine merkwürdig dialektische Volte schlagen, indem sie den kritisierten Gegenstand ikonographisch stärken. Gemeint sind bearbeitete Fotos, auf denen der Großherzog das Songcover von Grand-Duc in Händen hält, auf denen Marie-Thérèse royalistisch-verträumt an einem Türrahmen lehnt, im Hintergrund Brokat und Seide, sie trägt einen reinmontierten Schlabberpulli mit dem Spruch: „Keep calm and féck de grand-duc“. Es sind Memes, Gags, schnelle Klicks, und was wir behalten: Der Großherzog ist eigentlich ganz okay, gerade weil man ihn ein wenig aufziehen kann. Das ist letztlich unbezahlte Werbung für den Hof, von keinem in Auftrag gegeben – und gerade deswegen so durchschlagend.

Wer von Kritik hierzulande spricht, muss auch von ihrem Gegenteil sprechen, von Eigenlob und Schlaffheit, kurz: vom Nation Branding. Tatsächlich ist die öko-nationale Kampagne ein so schrecklicher wie dankbarer Gegenstand von Kritik. Dankbar, weil die ganze Kampagne dermaßen durchschaubar und übergeschnappt ist, dass es allzu einfach erscheint, sie kritisch zu analysieren. Schrecklich, weil alle Bemühungen, die Kampagne in ihrer ganzen Falschheit zu fassen, an ebendieser abperlen. Bei den wichtigen global und economic players kommt „Let’s make it happen“ nunmal an. Es ist einer dieser hohl aufgeblasenen Sprüche, die nach außen hin prall wirken. Man laufe nur einmal offenen Auges an den Werbe-Boards der Wealth Manager und Consulting-Firmen vorbei, die den Luxemburger Flughafen dekorieren. Und so dreht sich die Marketing-Spirale effizient weiter, so bohrt sich das neue Image von Luxemburg munter in viel zu viele unbekümmerte Hirne hinein.

Dieser Misere wurde auch das Kollektiv Richtung22 gewahr. Im April dieses Jahres waren die Künstler die mutmaßlichen Urheber einer Aktion auf dem Kirchberg. Über Nacht wurde ein brusthoher, offiziös wirkender Kubus aufgestellt, auf dessen Fläche ein steinerner Miniatur-­Triumphbogen angebracht war. Auf einer vergoldeten Plakette stand: „Dësen triumphale Bou gönnt sech Lëtzebuerg fir seng Beméi­ungen d‘Welt zu engem Uert vu Gerechtegkeet ze man“. Weiter unten stieß man auf das Nation-Branding-Logo, diesmal mit dem Schriftzug: „Selbstinszenéierung. Let’s make it happen.“

Gut möglich, dass das artistische Guerilla-Manöver an die Arbeiten vom Zentrum für politische Schönheit angelehnt war, ein Kollektiv, das in den letzten Jahren in Deutschland oftmals auf sich aufmerksam gemacht hat. In geschickt orchestrierten, medienwirksamen Aktionen wurden beispielsweise Gedenkkreuze abmontiert, die an der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze an die bei der Flucht Gestorbenen erinnern sollen. Die Kreuze wurden nach Griechenland und Bulgarien gebracht, an eine neue tödliche Grenze, um dort in der waldigen Pampa auf die fatalen Versäumnisse einer misslungenen EU-Flüchtlingspolitik hinzuweisen.

Hier wie dort dringt man in die Stabilität des öffentlichen Raumes ein; hier wie dort versucht man, in wuchtigen symbolischen Handlungen auf Missstände hinzuweisen. Es gilt, die räumliche und mediale Öffentlichkeit zu besetzen, sie mit den eigenen Themen zu taggen. Beim ZFPS war diese Taktik der kritischen Artikulation eine Zeit lang durchaus erfolgreich.

Und hier in Luxemburg? Der weiße Block stand mehr als zwei Wochen in einer Grasrinne der Avenue Kennedy, nahe der Philharmonie. Das Nacht-und-Nebel-Aufbau-Video über die Aktion, die Richtung22 bei Facebook teilte, ohne sich dezidiert als Urheber erkennen zu geben, erhielt 26 Likes. Das war’s auch schon. Kein Fonds Kirchberg beschwerte sich in einer Pressemitteilung. Kein Politiker fühlte sich bemüßigt, sich zu Wort zu melden. Keine Zeitung griff die Aktion auf. Im Kommentarfeld zum Video klingt Richtung22 dann auch so amüsiert wie desillu­sioniert: „Do gouf sou eppes um Kierchbierg opgebaut, dat huet elo 17 Deeg laang kee Mënsch gestéiert. Ween huet dat dann elo nees ofgebaut?“ Ein engagiertes Kollektiv, das zugibt, dass die eigene Kunstaktion niemanden störe – das kommt einer Bankrotterklärung arg nahe. Ohne Resonanzraum entsteht nunmal kein Echo, kein (Auf-)Schrei wird verstärkt, weder Zweifel noch Invektiven finden Halt.

Einerseits zeigen die drei Beispiele: Ja, Kritik gedeiht in Luxemburg. Andererseits: Sie gedeiht auf eine Weise, wie Unkraut am Wegesrand sprießt. Solange niemand drüber stolpert, ist’s nicht weiter schlimm. Solange der Wildwuchs die hübschen Kacheln nicht von innen sprengt, macht’s keinen Unterschied: Kritik ist Unkraut ist Deko. In dieser Logik kann dann auch das Ministerium für Kultur 2015 das Theaterstück Lëtzebuerg, du hannerhältegt Stéck Schäiss von Richtung22 bezuschussen – erstens weil jedes Kunstprojekt, auch unabhängig von seiner etatistischen Kritik, förderungswürdig sein muss. Zweitens weil dieser jungspundige Klamauk eigentlich keinen so richtig schert. Und so lässt sich die Polemik recht einfach erdrücken, indem man sie umarmt. Keine Angst, es wird auch nicht wehtun. Wie sonst lässt sich erklären, dass David Arendt, ehemaliger Direktor des Freeport, gutgelaunt einer Aufführung von Richtung22 beiwohnte, in der er selbst Ziel der Kritik und des Spotts war? Versprochen: Hier tut alles gar nicht so weh.

Samuel Hamen
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