Sanftmut und Geschmeidigkeit

Victoria Janisch
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 08.09.2017

Das Studio von Victoria Janisch, genannt Vici, in Munsbach ist freundlich und hell mit natürlichen Materialien eingerichtet, die Ausstattung ist bewusst schlicht gehalten. Farblich stellt die Canteinica-Trainerin in schwarzen Leggings und Top mit ihren dunklen Haaren und dem dunklen Teint einen scharfen Kontrast her. Doch das offene Lächeln und der sanfte österreichische Singsang, in dem sie spricht, nehmen alle Härte.

Zur Cantienica-Methode kam Vici Janisch erst spät und, wie sich das im 21. Jahrhundert gehört, wie Internet-Suchmaschine Google. Dort geriet sie eher zufällig auf die Webseite der früheren schweizerischen Journalistin Benita Cantieni und alles was sie dort in zwei Stunden über die von ihr entwickelte Trainingsmethode las, erschien ihr logisch und ergab Sinn. Janisch brachte sich die Übungen selbst bei, belegte nie einen Kurs als Teilnehmerin, bevor sie nach Zürich zur Trainingsausbildung mit Abschlussexamen fuhr.

Die Voraussetzungen dafür, sich eine Trainingsmethode in Eigenregie beizubringen waren gut. Janisch, die ihrem Mann nach Luxemburg gefolgt ist, hat an der Wiener Staatsoper von Kindsbeinen an die Ausbildung zur professio­nellen Balletttänzerin absolviert. Mit zehn wurde sie aufgenommen und lebte sechs Jahre im Internat. Fünf Stunden Training täglich, nebenher Schule und abends Vorstellungen, eine anstrengende Zeit. Die Ausbildung hat sie abgeschlossen, Karriere als Tänzerin hat sie nicht gemacht. Das harte Konkurrenzumfeld demotivierte Janisch, die Ellbogenmentalität gefiel ihr nicht, sich in den Vordergrund drängen zu müssen, um Konkurrentinnen auszustechen. Sie studierte – mit Kind –, wurde Übersetzerin für Englisch und Spanisch, arbeitete in der Leitung einer Schauspielschule, wo sie, als Not am Mann war, einsprang, um einen Workshop zu halten. Was sie den Studenten über Bewegung beibrachte, kam dermaßen gut an, dass sie sich erneut für einen Richtungswechsel in der Karriereplanung entschied: Sie wollte wieder etwas mit Bewegung und vor allem mit Menschen machen, statt im Büro zu sitzen. Da die Ausbildung, die sie machen wollte, erstens sehr teuer und zweitens nur weit weg, in den USA, angeboten wurde, suchte sie nach Alternativen. Dann griff Google ins Schicksal ein.

Mit der Haltung und den Bewegungsabläufen im Ballett hat Cantienica nichts gemein. Doch was Vici Janisch von den Jahren als Tänzerin geblieben ist, ist das, was sie „körperliche Intelligenz“ nennt, ein Verständnis dafür, wie ihr Bewegungsapparat funktioniert. Ein gewisses theoretisches Grundwissen über die eigene Anatomie versucht sie auch ihren Kunden beizubringen, bevor das Training überhaupt beginnt. Dafür hat sie Skelett und Modell von Wirbelsäule und Becken bereit, sowie Computerprogramme, in denen sie verschiede Muskelgruppen ein- und ausblenden kann. Das Becken, genauer der Beckenboden, sowie das Zwerchfell spielen beim Cantienica (gesprochen: Kantienika) die zentrale Rolle. „Zwei Etagen im Hochhaus“ versucht Janisch zu beschrieben, wie diese Muskelgruppen Organe und Knochen an ihrem eigentlichen Platz behalten sollen, eine aufrechte Haltung ermöglichen und deshalb, wenn richtig trainiert, nicht nur bei Schmerzen im Rücken und anderen Gelenken helfen, sondern auch bei Inkontinenz und anderen peinlichen Problemen. Es geht darum, Raum zu schaffen im Körper, zwischen den Knochen, zwischen den Wirbeln, damit nichts drückt, zieht, brennt, aneinander reibt oder gequetscht wird. Das funktioniere so gut, sagt Janisch, dass in den Nachbarländern viele Physiotherapeuten auf die geschützte Trainingsmarke Canteinica umgestellt hätten.

Was Cantienica von anderen Methoden unterscheidet, ist dass die Hauptaktivität im Kopf stattfindet, in der Vorstellungskraft liegt. Denn die Bewegungen, mit denen der Beckenboden trainiert wird, und zwar die innerste Muskelschicht, nicht die äußerlichen Schließmuskel, müssen erst erahnt werden, bevor man sie spürt. Sie sind so minimal, dass sie äußerlich kaum sichtbar sind. Und: anders als bei anderen Methoden, besteht eine der Hauptherausforderungen darin, die Muskeln zu entspannen, loszulassen, anstatt sie anzustrengen, damit alles zurück an seinen Platz „zurückfließen“ kann.

Die Einsteigerübung besteht darin, sich auf den Rand eines Hockers genau auf die Sitzbeinhöcker zu setzen und die Knie und Fersen auf eine Linie zu bringen. Dann stellt man sich vor, wie beim Einatmen die Luft von unten nach oben durch den Oberkörper und aus dem Kopf herausströmt wie durch einen Kaminschacht, um die Wirbelsäule möglichst lang und gerade aufzurichten. In dieser Position drückt man die Fersen leicht in den Boden und spürt plötzlich, dass sich im Inneren etwas tut: Die Sitzbeinhöcker rutschen näher aneinander, wodurch die oberen Beckenknochen sich in der Gegenbewegung ein wenig ausbreiten. Erfolgserlebnis!

Victoria Janisch gibt Anleitungen wie: „Jetzt die Oberschenkelmuskeln aus der Leiste drehen.“ Auch diese Bewegung muss man sich erst einmal vorstellen, um sie durchführen zu können – überlegen, wo die Leiste ist, wie man daraus die Oberschenkel rausdrehen könnte – und obwohl das rabiat klingt, ist äußerlich kaum ein kurzes Anspannen der Beinmuskulatur sichtbar. Die Bewegungen sind so klein und sanft – wirklich anstrengend ist Cantienica für Beginner deshalb ersteinmal für den Kopf, was sich im Gesicht bemerkbar macht. Deshalb erinnert die Trainerin regelmäßig daran, den Kiefer zu entkrampfen und die Lippen nicht zusammenzupressen.

Mit der Übung steigt das Niveau und damit auch die Anstrengung. Doch mit über tausend Übungen und möglichen Bewegungsfolgen, versichert Janisch, könne jeder und jede Cantienica probieren. Schließlich gehe es darum, die „Übungen“ in den Alltag zu integrieren, den „guten Stand“ an der Bushaltestelle zu finden, beziehungsweise die richtige Haltung am Schreibtisch, alles via Beckenboden. Für die Nachhausefahrt erinnert sie per SMS daran, die Sitzbeinhöcker richtig zu platzieren. Und den Rückspiegel bei ganz gerader Haltung einzustellen. Dann merkt man beim Blick in den Spiegel schnell, ob man schon wieder abgerutscht ist... (bodypowerandposture.com)

Michèle Sinner
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