Das „aktuelle Modell Luxemburg ist nicht tragbar“, stellte der linke Abgeordnete Marc Baum am Dienstag bei der Vorstellung des provisorischen Wahlprogramms für den 14. Oktober fest. Wobei er weniger das alte Luxemburger Modell der Tripartite und Sozialpartnerschaft meinte, als das, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, doch sehr erfolgreiche Akkumulationsregime. Was er mit „tragbar“ meinte, erklärte er nicht. Ersetzte er aber „tragbar“ durch „nachhaltig“, gäben ihm inzwischen selbst das Mouvement écologique, CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler und die Handelskammer Recht.
Für Déi Lénk sei dagegen untragbar, dass die Einkommensschere sich öffne, das Armutsrisiko steige, die Arbeitslosigkeit nur marginal sinke, die Wohnungspreise „astronomisch“ seien, die Schulen die sozialen Unterschiede verstärkten die Abhängigkeit vom Finanzsektor Luxemburg international zum „Schmuddelkind“ mache, die Betriebe immer weniger zum Steueraufkommen beitrügen und der öffentliche Transport „embryonal“ sei. Luxemburg sei europäisches Schlusslicht bei der Energietransition, die Umwelt verschlechtere sich, die Landwirtschaft ernähre die „eigene Bevölkerung“ nicht, nur Wenige seien an den Entscheidungsprozessen beteiligt, öffentliche Dienstleistungen würden privatisiert, Presse und Kultur kommerzialisiert.
All jenen, die sich als Opfer solcher Verhältnisse fühlen, will das Wahlprogramm wieder „Perspektiven eröffnen“, versprach Marc Baum. Deshalb stellt Déi Lénk nun einen unpaginierten Entwurf ihres Wahlprogramms bis nächsten Monat im Internet zur Diskussion, bevor es endgültig verabschiedet werden soll. Gegenüber dem Programm von 2013 ist es ein völlig neuer Text. Mit 80 Seiten und etwa 400 oft sehr detaillierten Programmpunkten ist er vier Mal länger; drei der 22 Kapitel, über Digitalisierung, Hochschule und Einwanderung, fehlen noch.
Für den ehemaligen Abgeordneten Serge Urbany handelt es sich nicht bloß um ein Wahlprogramm, sondern auch um ein „ständiges Programm“, das über den Wahltag hinaus seine Gültigkeit behalten soll. An dem Papier wird seit einem „Zukunftsseminar“ gleich nach den Gemeindewahlen vor einem halben Jahr gearbeitet, so Parteisprecherin Carole Thoma. Das Seminar hatte sich auch mit dem Selbstverständnis und der Zukunft der demnächst 20-jährigen Partei beschäftigen sollen.
Die gescheiterten Reformbestrebungen unter Michail Sergejewitsch Gorbatschow in der Sowjetunion, der Untergang der DDR und der Tod von Parteipräsident René Urbany hatten Ende der Achtzigerjahre und Anfang der Neunzigerjahre die Kommunistische Partei Luxemburgs in eine existenzielle Krise gestürzt. Auf der Suche nach einem Ausweg gründeten Erneuerer in der Partei einige lokale Wahlbündnisse für die Gemeindewahlen 1993, wo Kommunisten und Nichtkommunisten als Nei Lénk kandidierten. Doch Ende 1993 wählte ein Kongress die Erneuerer aus sämtlichen Parteigremien, so dass zwei Dutzend von ihnen, darunter der Abgeordnete André Hoffmann, aus der Kommunistischen Partei austraten und bei den Kammerwahlen 1994 im Südbezirk als Nei Lénk erfolglos gegen die KPL kandidierten.
Zu Beginn des Wahljahrs 1999 wurde dann im Bonneweger Eisenbahnerkasino Déi Lénk gegründet, in der sich ehemalige Kommunisten der Nei Lénk, Trotzkisten der mit dem stalinistischen Erzfeind untergegangenen Ligue communiste révolutionnaire/Revolutionär Sozialistischen Partei, von den CSV/LSAP-Koalitionen enttäuschte Jungsozialsten und parteilose Linke zusammenfanden. Mit einem linkssozialistischen, ökologischen, feministischen und unideologischen Programm sowie einer an die Anfangsjahre der Grünen erinnernden basisdemokratischen Organisationsform erhielt déi Lénk 1999 vor allem aus einem linken Intellektuellen- und Beamtenmilieu ein Parlamentsmandat, das sie 2004 verlor. 2009 erhielt sie wieder ein Mandat und 2013 zwei, wobei die Mandatsträger im Laufe der Legislaturperioden rotierten.
Das neue Wahlprogramm hat ein wenig seine Prioritäten geändert. Denn begann das Programm von 2013 noch als Reaktion auf den Geheimdienstskandal und die Regierungskrise mit dem Kapitel „Demokratie und Verfassung“, kommt jetzt das linke Grundthema „Arbeit“ zuerst. Die LSAP verspricht 100 Euro netto mehr Mindestlohn, der OGBL will eine zehnprozentige und die Kommunistische Partei eine 20-prozentige Mindestlohnerhöhung. Déi Lénk schlägt in ihrem Wahlprogramm nun eine sofortige Erhöhung um 13 Prozent oder 251Euro und zwei Jahre später um weitere 130 Euro vor, damit der Mindestlohn 60 Prozent des mittleren Einkommens ausmacht, wie der Europäische Gewerkschaftsbund verlangt. Das bisherige Wahlprogramm sah eine Erhöhung um 300 Euro vor, damit der Mindestlohn über der Armutsgrenze liege. Der Anspruch auf den 20 Prozent höheren qualifizierten Mindestlohn soll nach zehn Jahren Berufserfahrung garantiert werden. DP, LSAP und Grüne hatten gleich nach ihrem Regierungsantritt den Putzfirmen versprochen, diese Lohnaufbesserung aus dem Arbeitsrecht zu streichen.
Ab nächstem Jahr soll eine sechste Urlaubswoche verallgemeinert werden und die Wochenarbeitszeit bis 2030 schrittweise auf 32 Stunden gesenkt werden, mit vorübergehenden Zuschüssen für Klein- und Mittelbetriebe. 2013, vor Rifkin, hatte man sich noch mit einem Rahmengesetz für die 35-Stundenwoche zufrieden gegeben. Ähnlich wie Zentralbanken Lender of last resort für zahlungsunfähige Banken sind, soll der Staat Arbeitgeber letzter Instanz sein und, ähnlich der Jugendgarantie, ein einklagbares Recht auf Ausbildung oder Arbeit schaffen. Die Betriebe sollen „als Ort gleichberechtigter Kooperation“ definiert und die Beschäftigten an allen „Entscheidungen (auch über strategische Fragen)“ verbindlich beteiligt werden. Für die Scheinselbstständigen der Internet-Firmen sollen neue arbeitsrechtliche Statute geschaffen werden.
Déi Lénk spart nicht mit Lob an der universellen und inklusiven Renten- und Krankenversicherung, die vom „neoliberalen Mainstream“ angegriffen werde. Deshalb sieht sie sicherheitshalber auch von dem noch 2013 erwogenen bedingungslosen Grundeinkommen ab. Sie will die strukturellen Rentensenkungen der Reform von 2012 rückgängig machen und die Versicherungspflicht auf jene ausweiten, die vorübergehend nicht in einem Lohnarbeitsverhältnis stehen. Die Beitragsbegrenzung auf den fünffachen Mindestlohn will sie abschaffen, die Babyjahre auf 24 Monate ausweiten. Das garantierte Mindesteinkommen soll von 1 401 auf 1 689 Euro erhöht werden, um über der Armutsgrenze zu liegen.
Die Partei will wegen der Leistungskürzungen die Reform der Pflegeversicherung zurücknehmen und zu ihrer Finanzierung Unternehmerbeiträge einführen. An die Widersprüche der liberalen Medizin im Rahmen der öffentlichen Zwangsversicherung traut sie sich nicht heran, kritisiert aber die Geschäfte der Privatlabors.
Déi Lénk schlägt vor, die Stipendien von 1 000 Euro pro Semester und das Kindergeld für Volljährige durch eine monatliche Autonomiezuwendung von 400 Euro zu ersetzen, die direkt an Studierende und Lehrlinge ausgezahlt wird. Sie soll zusätzlich durch die Wiedereinführung der im Laufe der Jahre auf null gesetzten Unternehmerbeiträge zur Familienzulagenkasse, der Zukunftskeess, finanziert werden. Die Familienzulagen sollen wieder automatisch an den Index angepasst werden. Der Elternurlaub soll um ein halbes Jahr verlängert und die Kinderbetreuung kostenlos werden, so dass die Chèques-service und die kommerziellen Kindertagesstätten verschwinden können.
Zur Bekämpfung der „akuten Wohnungskrise“ soll die öffentliche Hand massiv kostengünstige Mietwohnungen bauen. Die Gemeinden sollten den Wertzuwachs bei der Umklassierung von Bauland besteuern, die im Pacte logement mögliche Besteuerung von während drei Jahren brachliegendem Baugelände soll obligatorisch werden.
Sehr ausführlich ist das Bildungskapitel im Wahlprogramm, vielleicht weil die Pädagogen in der Partei besonders fleißig sind. Déi Lénk will „langfristig“ die in den Siebzigerjahren auch von LSAP-Lehrern verlangte Gesamtschule bis zum Ende der gesetzlichen Schulpflicht einführen und Ganztagsschulen fördern. Kategorisch lehnt sie die von der DP geförderte Schulautonomie und die Konkurrenz zwischen den Lyzeen ab und will die öffentliche Schule gegen Privatisierungstendenzen verteidigen. Am überraschendsten im Vergleich zum Programm von 2013 ist vielleicht, dass Déi Lénk die Grundschüler auf Luxemburgisch, der Verkehrssprache in den Vorschulen, alphabetisieren und sie dann Französisch statt Deutsch als erste Fremdsprache lehren will.
Entschieden lehnt Déi Lénk die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ab. Sie will in deren Interesse das Beamtenstatut schützen und, wie inzwischen mehrere andere Parteien, die Senkung der Anfangsgehälter beim Staat rückgängig machen.
Die Partei nimmt das Zwangskorsett der Haushaltspolitik in der Euro-Zone hin, will aber die Besteuerung der großen Unternehmen erhöhen und die Steuerbefreiung der Dividenden, Spezialisierten Investitionsfonds (FIS), Stock-Options, Urheberrechte und was sonst noch ausländisches Kapital zu einem kurzen Umweg nach Luxemburg ermutigt, zurückdrängen. Denn sie spricht sich für eine „schrittweise Abkehr“ von auf der Steuerflucht gründenden Finanzaktivitäten aus, wie auch der Tanktourismus schrittweise durch Steuererhöhungen auf Dieselkraftstoff beendet werden soll. Durch ein Bonus-Malus-System sollen die Unternehmen in Richtung sozial-ökologische Transition bewegt werden.
Die Steuerklassen für natürliche Personen sollen abgeschafft und die Besteuerung der Haushalte nach Konsumeinheiten gewichtet werden. Die Vermögenssteuer für natürliche Personen soll wieder eingeführt, über die Erbschaftssteuer in direkter Linie soll aber vorsichtshalber bloß „diskutiert“ werden.
Déi Lénk will sich „weiter für eine Republik einsetzen“ und das Wahlrecht allen dem nationalen Recht unterliegenden Bewohnern einräumen, unabhäbig von ihrer Staatsbürgerschaft. Wie fast alle kleineren Parteien zieht sie einen einzigen landesweiten Wahlkreis vor. Auf die noch 2013 verlangte Abschaffung des „Spitzeldienstes“ wird, wohl als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris und Brüssel, inzwischen verzichtet. Dafür hält sie aber am Austritt aus der Nato fest.
Seit 2013 ist Déi Lénk auch im Postfeminismus angekommen und verzichtet auf ein eigenständiges Kapitel zur Gleichstellung. Auch ihr Eifer für den Tierschutz hat sich gelegt, dessen Adepten scheinen zu Pid und Piraten weitergewandert zu sein.
Doch ein Wahlprogramm mit Hunderten von Detailvorschlägen aufzusetzen, ist eine Sache. Die andere ist, es umzusetzten, wenn die Aussichten auf eine Regierungsbeteiligung eher gering sind. Denn nicht einmal die CSV glaubt richtig daran, dass zwei linke Abgeordnete die Mehrheit der liberalen Koalition retten wollen.
Deshalb hat Déi Lénk zwei Zauberwörter: „Transformation“ und „historischer Block“. Transformation ist ein technisch klingender Begriff für die auf den Revisionismusstreit und die Eurokommunisten zurückgehende Vorstellung, dass es eine Art revolutionären Reformismus gibt, durch den kleine quantitative Veränderungen nach den Gesetzen der Dialektik einmal in eine große qualitative umschlagen. „Systemverändernd, transformatorisch“ nennt Serge Urbany Déi Lénk. Ihr Wahlprogramm müsse laut Marc Baum so den „Spagat zwischen mittel- und langfristigen Zielen und gleichzeitig ganz konkreten, direkten Maßnahmen“ versuchen, um eine „grundlegende Veränderung des Modells Luxemburg“ zu erreichen.
Zur „grundlegenden Veränderung“ rief Serge Urbany am Dienstag alle Personen und Organisationen, die sich für den „Umweltschutz einsetzen, alternative Produktionsformen versuchen, die Gewerkschaften, die sozialen Vereinigungen...“ auf, einen neuen „historischen Block“ zu konstruieren. In der Denkweise des italienischen Philosophen Antonio Gramsci ist das nicht nur ein soziales Bündnis, sondern die Gesamtheit von Politik, Kultur, Ideologie und Wirtschaft, die zu einer neuen Hegemonie führen kann. Als richtigen politischen Widersacher machte Serge Urbany folglich nur „die kleine Schicht von Ultrareichen“ aus, eine Paraphrase des etwas problematischen Occupy-Wallstreet-Mottos „We are the 99%“.