CSV

Eine Volkspartei auf populistischen Abwegen

d'Lëtzebuerger Land du 11.12.2008

Am 5. Oktober 2006 reichte der CSV-Fraktionsvorsitzende Michel Wolter, ohne vorherige Absprache mit seinen Parteifreunden, einen Gesetzesvorschlag ein, um die Trikolore als Natio­nalflagge abzuschaffen und durch die Löwenflagge zu ersetzen. Damit löste er eine mittlerweile abgeflaute Kampagne aus, die man kopfschüttelnd als Sturm im Wasserglas und ziemlich durchsichtiges Manöver ei­nes populistischen Politikers abtun kann. Sie lässt sich jedoch auch als symbolischen Machtkampf um die Definition der Zugehörigkeit zur Luxemburger Gesellschaft oder, präziser, um die Teilnahme an der Umverteilung der durch die Ausnutzung der Souveränitätsnischen erwirtschafteten Profite interpretieren1.

Eine „unpolitische“ Initiative

Obwohl selbst die eigene Partei nicht so recht den Sinn dieser Initiative erkennen wollte und der Fraktionschef des Koalitionspartners LSAP die Meinung der Mehrheit der Politiker und politischen Journalisten mit der Aussage, das Land „habe derzeit andere Sorgen“ auf den Punkt brachte, entstand eine regelrechte Kampagne zugunsten des Vorschlags. Diese wurde von einem ad hoc und „spontan“ geschaffenen Internet-Portal getragen. Hier konnte man sich in eine Petitionsliste eintragen, was 26 500 Bürger, circa ein Achtel der Wahlbevölkerung, taten. Hier konnte man auch Aufkleber mit dem Fahnenmotiv und der Zeile „Ich bin dafür“ bestellen. Diesen Stickern in den Rückfenstern der PKWs antworteten schnell andere, meist satirische, mit verschiedenen Motiven, die zum Beispiel einen rosaroten Panther, einen röhrenden Hirschen oder gar ein Firmenlogo auf dem blau-weiß-gestreiften Wappenhintergrund zeigten. Die eigentliche Debatte wurde in Leserbriefen und auf Internetforen ausgetragen. 

Von den Befürwortern, die parteipolitische, patriotische und nationalistische Motive von sich wiesen, wurde hauptsächlich die Verwechslungsgefahr mit der niederländischen Fahne sowie die Schönheit und Originalität der Löwenfahne hervorgehoben. Wur­de in den Leserbriefen meist sehr zurückhaltend und euphemistisch argumentiert, so war der Ton im Internet freimütiger: die Angst vor Überfremdung, der mangelnde Integra­tions­wille der Ausländer und die Bedrohung der Luxemburger Sprache wurden oft mit dem Souveränitätsverlust und den steigenden Lebenshaltungskosten zu einem Argumenta­tions­strang verknüpft. Folgender Beitrag auf dem Internet-Forum des DNR ist in seiner Kürze und Unartikuliertheit typisch: „Moien dnr, ech si ganz dofier well am fong ass de roude leif nach daat een­zegt waat letzebuerg wirklech bleift. Mier hun keng eegen währung mei, eis sprooch naja a sooss...sonja.“ 

In Internet-Forum sokrates.lu wird der Löwe als Symbol gegen eine nicht näher bezeichnete Unterdrückung vorgestellt: „Fir mech weißt de rouden léif, dass mër eis wieren an net méi ënnerdrécken loossen.“ 

Als Hauptargument gegen einen Fahnenwechsel wurden der fehlen­de Anlass sowie der Hinweis auf wichtigere gesellschaftliche Probleme an­gege­ben. Auch wurde darauf hingewiesen, die belgische Provinz Luxem­burg und einige Städte verfügten über fast identische Löwen-Flaggen und dass es vorzuziehen sei, mit einem Nationalstaat als mit einer Provinz oder Kleinstadt verwechselt zu werden. Die Kritiker der Löwen-Kampa­gne zeigten oft Verständnis für die patriotische Löwenbegeisterung besonders der Sportfans, versuchten aber zu erklären, dass diese kein hinreichender Grund für einen Fahnenwechsel darstellte. Für den Historiker André Grosbusch würde das Aus­tauschen einer „Staatsflagge, die für Freiheit und Gleichheit steht“, durch ein „heraldisches Symbol aus dem feudalen Mittelalter“ einem Putsch gleichkommen. Der Lëtzebuerger Land-Essayist Jacques Wirion sah in der Initiative einen „schlechte(n) und ge­schmacklose(n) Witz“ und im Löwen einen „Wächter (der) die satten Ratten gegen die hungrigen schützt, die aus der ganzen Welt in die Luxusfestung eindringen wollen.“

Zwei Meinungsumfragen erlauben es, die Anhänger der neuen Flagge, die immerhin 50 Prozent der befragten Luxemburger ausmachen, eingehen­der zu beschreiben2. Die Begeisterung für den Roten Löwen ist besonders groß bei jungen Leuten, sie nimmt mit zunehmendem Alter und zunehmender Schulbildung ab. Sie ist überdurchschnittlich hoch bei Luxemburgern, die sich nicht als Europäer fühlen, die stolz auf ihre Nationalität sind, die überzeugt sind, dass „die Ausländer die Luxemburger Nationalität nicht respektieren“, dass „die Luxemburger Identität dabei ist, sich zu verlieren“, sowie dass man von Luxemburger Eltern abstammen und die Luxemburger Sprache sprechen muss, um Luxemburger zu sein. Kein Wunder, dass die Anhänger der neu­en Flagge massiv gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft sind. 

Diese eindeutigen Befunde stehen im Widerspruch zu den Aussagen der Initiatoren, die jeden nationalistischen Hintergedanken abstreiten, und den Behauptungen vieler Befürworter, sie bevorzugten die neue Fahne, weil der Löwe schöner, lustiger oder dynamischer aussähe. Doch sowohl die Trikolore als auch der Löwe sind polysemische Symbole und eignen sich deshalb als Träger für diskursive Auseinandersetzungen, de­ren wahre Zielsetzung nicht sagbar ist und den einzelnen Akteuren nicht bewusst zu sein braucht. Viele Symbole beziehen gerade daraus ihre Wirkung, dass sie verschiedene Gruppen hinter sich vereinen können, für die sie unterschiedliche Bedeutungen haben. 

Konflikte in der Konsensdemokratie

Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich eine Konstellation von drei staatstragenden Parteien herausgebildet. Die Christdemokraten (CSV) bilde­ten, mit Ausnahme einer Legislaturperiode, immer zusammen mit ei­nem Juniorpartner, sei es der LSAP oder der DP, die Regierung. Dies führte zu einem hohen Stabilitätsgrad des Systems und zu einer gro­ßen Konsensfähigkeit dieser drei Parteien, die noch durch das Panachage-Wahlsystem verstärkt werden. Mittels der personalisierten Stimmen entscheiden die Wähler und nicht etwa die Parteien über das Schicksal des einzelnen Kandidaten und somit über die Zusammensetzung des Parlaments und der Regierung.Michel Wolter kam bei den Parlamentswahlen 2004 auf den vierten Platz in seinem Wahlbezirk. Da die ersten drei Kandidaten Minister wurden, wird er den Posten des Frak­tionssprechers womöglich als Trostpreis empfunden haben. Auf jeden Fall hat er seinen Gesetzesvorschlag, die Nationalflagge zu ändern, in seinem persönlichen Namen, ohne Absprache mit der Fraktion oder der Parteileitung eingebracht und damit den Unmut in weiten Kreisen der Partei hervorgerufen. In den letzten Jahren, unter dem Impuls ihres Premierministers Jean-Claude Juncker, hat die CSV es verstanden, sich parallel zur Gesellschaft zu verändern. Am Anfang des neuen Jahrhunderts bildet sie den Kristallisa­tionspunkt eines neuen staatstragen­den politi­schen Lagers, das das alte Lager des ländlichen Katholizismus, ihre traditionelle Wählerbasis, abgelöst hat. Als moderne pragmatische Volkspartei der Mitte hat sie es verstanden, sich als Begründer und Garant des neuen Reichtums Luxemburgs zu profilieren und dadurch ihre Wählerschaft beträchtlich verjüngt, gleichzeitig in Kauf nehmend, konservative und der katholischen Kirche verpflichtete Wähler zu verprellen3.  

Der Ausgang des Referendums zum Europäischen Verfassungsvertrag im Juli 2005 hat den tiefen Graben zwischen der Wahlbevölkerung und dem offiziellen politischen Diskurs offenkundig gemacht. Obschon die vier großen Parteien, die bei den Parlamentswahlen 2004 zusammen 87 Prozent – bei den gleichzeitig stattfinden Eu­ropawahlen sogar 89 Prozent – der abgebenden Stimmen bekamen, sich un­umwunden hinter den Vertrag stellten, erhielt dieser nur die Zustimmung von 56 Prozent. Das Nein, das be­sonders unter Jugendlichen, Arbeitern und Arbeitlosen überproportional vertreten war, ist nicht wie in Frankreich als Protest gegen die neo-liberale Ausrichtung der EU-Verfassung zu interpretieren, sondern als durch den gesellschaftlichen Wandel bewirkte Verunsicherung und Zukunftsangst. Es stellt ein großes politisches Potential dar, das bislang von den Oppositionsparteien in Ermangelung eines realistischen Alternativprogramms nicht mobilisiert werden konnte.

Angesichts der geringen Handlungsspielräume, die sich der Luxemburger Politik bieten, bekommen symbolische Forderungen einen hohen Stellenwert, seien es fortschrittliche gesellschaftspolitische (Euthanasie-Gesetz; Trennung von Kirche und Staat), seien es konservativ-patriotische Themen (Einschreibung der Luxemburger Sprache in die Verfassung; Bau eines Festungsmuseum als Ort der nationalen Selbstfindung). Mit der Löwen-Kampagne konnte Wolter eine Wahlklientel bedienen, die eher anfällig für die rechts-populistische ADR ist. 

Obwohl nur ein Viertel der Abgeordneten Wolters Gesetzesvorschlag befürworteten4,  kam es zu keiner klaren politischen Aussage dagegen. Wolter wurde weder von der eigenen Partei zurückgepfiffen, noch sprach der sozialistische Regierungspartner ein Machtwort. Die großen Parteien hielten sich bedeckt, einerseits, weil es in jeder mehr oder weniger starke Kräfte gibt, die selber für ethno-kulturalistische Diskurse anfällig sind, andererseits, weil auch die modernistischen Kräfte sich nicht trauen, gegen reale oder auch nur vermeintliche Wählermeinungen vorzugehen. Die Kultur des Konsenses, die das Luxemburger politische Feld prägt, verlangte nach einem Kompromiss und, um diesen vorzubereiten, wurde zunächst ein Gutachten über die Bedeutung der Trikolore angefragt, das am 27. April 2007 vorlag und dessen Präsentation von Premierminister Juncker als Anlass zu einer Absage an den „Fanatismus“ auf beiden Seiten genommen wurde. 

Der Kompromiss

Nach weiteren zehn Wochen, am 6. Juli 2007, wurde dann endgültig der Kompromissvorschlag, zu dem die Regierung sich durchgerungen hatte, verkündet: „An alle Fäll bleift de Fändel vun eisem Land no baussen roud-wäiss-blo. E bleift dat och no bannen [...] well et ass e Fändel, deen eis iwwert 150 Joer Geschicht vun Onofhängegkeet begleed huet an deen an der Biographie vu ville Lëtzebuerger eng grouss Roll gespillt huet. [...] Wat ech der Chamber proposéieren, an engem Avis un de Conseil d’État – an d’Regierung ass mat mer d’accord – dat ass: eise Fändel bleift dee roud-wäiss-bloe Fändel, well mer esou sinn, wéi mer sinn. An dee roude Léiw gëtt gläichberechtegt unerkannt nierft deem roud-wäiss-bloe Fändel, legal a sengem Statut op Grond vun de Gewunnechte déi et am Land gëtt, a kann och bei nationalpatrioteschen oder sportlechen oder kulturellen [...] opgehaang ginn. Dee roud-­wäiss-bloe Fändel bleift an e muss bleiwen, well mer sou sinn wéi mer sinn. An dee roude Léiw kënnt dobäi [...] well eis Leit déi zwee Fändelen ëmmer als hir Fändelen - och am Häerz - akzeptéiert hunn. An déi zwee Fändelen hu kee Sträit mateneen. Si gehéieren zesummen.“

Durch zweimaligen Bezug auf die patriotische Parole der Hymne von 1859 („well mer sou sinn wéi mer sinn“) und die Personifizierung der beiden Fahnen, die miteinander streiten könnten, zollt Juncker einem romantischen und emotional überhöhten Nationenbegriff seinen Tribut. Er schlägt einen Kompromiss vor, der den verheerenden Eindruck, den ein Fahnenwechsel vermutlich im Ausland bewirkt hätte, vermeidet und eröffnet gleichzeitig einen Spielraum für das Ausleben patriotischer Gefühle. 

Wolters Reaktion auf diese Entscheidung weist diesen vollends als populistischen Politiker aus, da er seine Stellungnahme von den Reaktionen der Unterzeichner seiner Petition abhängig machen will und diese aufruft, ihm per E-Mail ihre Meinung mit­zuteilen. Wenn der Entschluss der Re­gierung die Zustimmung der Luxem­burger fände, könne er damit leben:5 „Die Menschen haben auf eine Antwort gewartet. Zehntausende haben sich an der Diskussion beteiligt. Daher will ich erst mal die Reaktion der Leute abwarten, bevor ich mir eine endgültige Meinung zu der Entscheidung des Regierungsrates bilden werde. Ich will herausfinden, ob sie dem Wunsch der Bürger entspricht.“

Von der Presse wurde der gefundene Kompromiss in überwältigender Weise begrüßt und die Auseinandersetzung flaute allmählich ab. Während die Sticker langsam von den Wagen verschwanden, ging der Gesetzesvorschlag seinen legislativen Gang. Im April 2008 meldete sich der Staatsrat mit seinem Gutachten, Voraussetzung für den Fortgang des legislativen Prozesses, zu Wort. In einem für einen juristischen Text unüblichen ironischen Ton mokiert er sich über die „überschwängliche nationale Identität, die zwei Fahnen benötige, um sich vollständig auszudrücken“ und die Überflüssigkeit der ganzen Unternehmung. Außerdem drückt er die Hoffnung aus, dass wieder „Ruhe in die Hütten“ einkehren werde und dass dank „des sprichwörtlichen gesunden Menschenverstandes“ die Luxemburgerinnen und Luxemburger mit der nötigen Weisheit und ohne „unkontrollierbare, überschwängliche patriotische Ausbrüche“ von ihrer neugewonnenen „Freiheit der Fahnenwahl“ Gebrauch machen mögen. Damit ist der Gesetzestext vorerst in eine Kommis­sion des Parlaments verwiesen. 

Die „sozialen Kohäsion“

Die Diskurse über das nationale Selbstbild Luxemburgs stehen in einem Spannungsfeld von Modernisierung und Rückwärtsgewandtheit. Den ers­ten Pol vertreten die Regierungstechnokraten, die Luxemburg nach außen – mit Hilfe des National branding – vermarkten müssen. Der so­ziale Frieden, die Offenheit, die Mehr­spra­chigkeit sind dabei entscheiden­de Argument, die sicher handfestere wirtschaftliche und gesetzgeberische Rahmenbedingungen nicht ersetzen können, aber zu deren Ergänzung beitragen. Der Luxem­burger Arbeitsmarkt ist weit über die demographi­schen Möglichkeiten Luxemburgs ge­wachsen, deshalb sind Grenzpendler und zusätzliche Immigranten notwen­dig, um weiteres Wachstum zu gewährleisten. In dieser Situation entsteht ein modernistischer staatstragender Diskurs, der Luxemburg, trotz seiner Kleinheit, als ernstzunehmenden Staat und als potenzielles Zentrum des Saar-Lor-Lux-Raumes darstellen muss. Letzteres wird zum Beispiel sym­bolisiert durch kulturelle Prestigebauten, allen voran eine neue Philharmonie und ein Museum für zeitgenössische Kunst, die ihre Besucher über die Staatsgrenzen hinaus anziehen (sollen), sowie durch die großregionale Ausrichtung des Programms der europäischen Kulturhauptstadt-2007. 

Mehr als die Hälfte der Luxemburger arbeiten in Wirtschaftszweigen, in denen eine gewisse nationale Verankerung nicht unbedingt, eine formelle Zugangsvoraussetzung jedoch von entscheidendem Vorteil ist. Hier übernimmt die Beherrschung der Sprache der Luxemburger sowie von deren Sitten und Gebräuchen eine gewisse protektionistische Funktion. Besonders wenig Qualifizierte, die außer dieses nationalen Zugehörigkeitsbonus wenig im Konkurrenzkampf mit den Grenzpendlern in die Waagschale zu werfen haben, sind für nationalistische Diskurse anfällig, die jedoch nicht wie in anderen Staa­ten mit einer expliziten Ausländerfeindlichkeit einhergehen müssen. Dies hängt damit zusammen, dass die zahlenmäßig starke Präsenz von Immigranten und deren Integra­tion über das ganze 20. Jahrhundert eine wirtschaftliche Notwendigkeit war und so in den Köpfen zu einer Selbstverständlichkeit wurde. Dennoch können populistische Politiker aus diesem diffusen Wir-Gefühl, aus der la­tent protektionistischen Einstellung Kapital schlagen.

Man soll dem Initiator der Löwen-Initiative jedoch keine zynische Berechnung unterstellen, sondern davon ausgehen, dass er aufgrund von Habitusübereinstimmung mit den potentiellen Unterzeichnern gehandelt hat. Indem sie seine Initiative tolerierte und, wie die befreundete Presse, diese kopfschüttelnd aber wohlwollend beobachtete, konnte die CSV ihren Volksparteicharakter unterstreichen. Aus Angst, einen nicht unbedeutenden Teil der Wählerschaft an die ADR zu verlieren, argumentier­ten sie und die beiden anderen traditionellen Regierungsparteien nicht offen­siv dagegen an. Aus demselben Grund wurde das Gesetz zur doppel­ten Staatsbürgerschaft nur zögerlich und verwässert vorangetrieben. Deshalb der Kompromiss im Fahnenstreit, deshalb auch der Topos des „gesellschaftlichen Zusammenhalts“, der zunehmend einen zentralen Stellenwert im politischen Diskurs einnimmt und dem gewissermaßen eine Brü­cken­funk­tion zwischen dem modernistischen staatstragenden und dem ethno-kulturalistischen Diskurs zukommt6. 

Dies wurde zum Beispiel deutlich in der diesjährigen Erklärung zur Lage der Nation (22. Mai 2008), in der der Premier diesen Topos mehr als 30 Mal gebraucht hat. Den Höhepunkt der Beschwörung der sozia­len Kohäsion stellt folgender Passus dar, der den Spannungsbogen schafft von den materiellen Grundlagen des augenblicklichen Reichtums – in der euphemisierten Formulierung des offensiven Umgangs mit der Glo­ba­li­sie­rung und der kompetitiven Steuerlandschaft – über die notwendige materielle Infrastruktur, hin zu einer tautologischen Definition der Identität, in der sich fast alle wiederfinden kön­nen: „Offensiven Emgang mat der Glo­baliséierung, kompetitiv Steier­land­schaf­ten, séier Stroossen, schéi Brécken, optimal Eise­bunns­ver­bin­dun­gen: dat alles ass net vill wäert wa mer eis Gesellschaft net beienee behalen. De gesellschaftlechen Zesummenhalt, d‘so­zial Cohesioun si vun essentieller Zukunftsbedeitung. Wa mer se verléiere, verléiere mer eis mat. Wa mer se behalen an do wou se brë­cheg ass flécken an op nei Bunne schéissen, da kënne mer roueg otmen.“

Der „ruhige Atem“ erinnert an den Slogan des „sicheren Weges“, mit dem die CSV es verstanden hatte, die letzte Wahl zu gewinnen. Wie die nächsten Wahlen in einem halben Jahr ausgehen werden, hängt nicht nur davon ab, welche Auswirkungen die internationale Finanzkrise auf die Luxemburger Wirtschaft haben wird, sondern auch davon, wie die Partei­en diese in ihrem Wahlkampf verarbeiten werden, wie sie die Modernisierungsverlierer, die sich im Nein zur EU-Verfassung artikuliert haben, in ihre Politik einbinden können. Eine Debatte über die Nationalfahne zur Unzeit im Parlament könnte populistischen Parolen Aufwind geben.

Die Auszählung der persönlichen Stimmen im Zentrum wird schließlich zeigen, ob Michel Wolters „folkloristische“ Initiative sich für ihn ausgezahlt hat. Sein Erfolg würde jedoch weiteren Diskredit auf ein Wahlsystem werfen, das für jede Hanswurstiade anfällig ist.

Der Autor lehrt Sozialwissenschaften an der Universität Luxemburg.

1 Dieser Beitrag ist ein überarbeiteter und aktualisierte Auszug aus: F. Fehlen "Streit um den Roten Löwen, Diskurse über das nationale Selbstbild Luxemburgs im Spannungsfeld von Modernisierung und Rückwärtsgewandtheit". In: Amann W./ Mein G. (Hrg.): Periphere Zentren oder zentrale Peripherien?, Heidelberg 2008, S. 61-87. Dort finden sich auch genaue Quellenangaben.

2 Ausführlicher in: Fernand Fehlen: "La face cachée du lion rouge, Analyse secondaire d›un sondage sur l›identité nationale", in: Forum 273.

3 Fernand Fehlen: "Die Wählerschaft von CSV und Rechtspartei im Lichte der empirischen Wahlforschung", in: Gilbert Trausch (Hg.): Die CSV, Spiegelbild eines Landes und seiner Politik?, Luxemburg 2008, S. 457-496.

4 Das Luxemburger Wort (9. Oktober 2007) hat bei allen Abgeordneten nachgefragt. 

5 Eigene Transkription eines DNR-Interviews vom 7. Juli 2007.

6 Zur Selbst- und Fremddefinition der Trägergemeinschaft eines Nationalstaates stehen die Konzeptgegensatzpaare von Kultur- vs. Staatsnation bzw. von Abstammungs- vs. Willensnation zur Verfügung. In dem in Fußnote 1 zitierten Beitrag habe ich die These aufgestellt, dass der in Luxemburg dominante Diskurs eng mit dem ersten, essentialistischen und ethno-kulturalistischen Pol verbunden ist. Sogar gegen die Annexion durch Nazi-Deutschland wehrten sich die Luxemburger mit der Affirmation eines Luxemburger Volkstums, ohne zu begreifen, dass sie sich damit innerhalb des Weltbildes des Aggressors bewegten.

Fernand Fehlen
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