Interview mit dem Historiker Rudolf von Thadden

Unter Geschwistern

d'Lëtzebuerger Land du 18.05.2000

Anläßlich der feierlichen Eröffnung des Kolloquiums zum Thema "Une Histoire sans limites - Grenzenlose Weltgeschichte" hielt der Göttinger Historiker Rudolf von Thadden kürzlich in Luxemburg einen vielbeachteten Vortrag. Mit d'Lëtzebuerger Land sprach der Historiker, der zugleich im deutschen Außenministerium das Amt des Koordinators für die deutsch-französische Zusammenarbeit innehat, über sein Leben zwischen Wissenschaft und Politik in Deutschland und Frankreich.

d'Lëtzebuerger Land: Worin wurzelt ihr Verhältnis zu Frankreich?

Rudolf von Thadden: Ich bin nach dem Krieg in der Schweiz zur Schule gegangen. Mein Vater stammt aus Pommern, er zog mit uns 1946 nach Genf. Dort war er beim Ökumenischen Rat der Kirche, weil er in der Nazizeit zu der oppositionellen Bekennenden Kirche gehört hatte, die im Lager des Protestantismus eine ganz wichtige Rolle spielte. Damals - 1946 - konnte ich noch kein Wort Französisch. Aber in dem Alter - ich war 14 - lernt man schnell. Zwei Jahre lang besuchte ich eine französischsprachige Schule. Dann habe ich mein Abitur auf Wunsch meines Vaters in Deutschland gemacht.

Anschließend habe ich ein Jahr als Dreher bei Daimler-Benz gearbeitet. Es gab noch keine Stipendien, ich habe mir also mein Geld verdienen müssen. Dann habe ich in Tübingen mit dem Studium Geschichte, Romanistik und Theologie begonnen. Anschließend bin ich nach Frankreich gegangen, weil mich die französische Kultur anzog. Von 1952 bis 1953 war ich an der Sorbonne.

War die Theologie Ihre Wahl?

Ja, wegen der Kirchengeschichte. In Paris habe ich bei Pierre Renouvin studiert. Meine Doktorarbeit habe ich wieder in Deutschland geschrieben - in Göttingen - über ein Thema, das halb Kirchengeschichte, halb allgemeine Geschichte umfasste - oder, wie man auf französisch sagt, à cheval sur deux disciplines: "Die brandenburgisch-preussischen Hofprediger im 17. Und 18. Jahrhundert". Mich hat immer interessiert, wie die prédicateurs de cour zu den Fürsten standen. Sie waren unabhängiger, als man glaubt, und häufig kluge Köpfe. 

1958 - nach meiner Doktorarbeit - habe ich mir einen Augenblick überlegt: Soll ich in der Wissenschaft bleiben, oder soll ich in die Politik gehen? Ich hatte immer beide Elemente in mir: Politik und Wissenschaft. Dann kam eine wichtige Entscheidung: Der damalige Bundespräsident Lübke bat mich, sein Mitarbeiter zu werden: Mein Vater sagte mir damals zu dem Vorschlag: "Du hast die Wahl. Wenn Du Macht haben willst, mußt Du in die Politik gehen. Wenn Du Freiheit haben willst, mußt Du in die Universität!" In diesem Augenblick habe ich mich entschieden, in der Wissenschaft zu bleiben. 

Meine Habilitationsarbeit habe ich dann, wie Sie sich denken können, über ein Thema der französischen Geschichte geschrieben. Ich hatte lange genug meinem coeur germanique Zucker gegeben. Jetzt war die andere Hälfte dran. Also habilitierte ich mich 1967 über "La centralisation contestée" - die Geschichte des französischen Verwaltungszentralismus im 19. Jahrhundert. Im Deutschen heißt der Titel: "Restauration und napoleonisches Erbe".

1968 wurden Sie Professor. Wie war Ihr Verhältnis zu den Achtundsechzigern?

Ich war selbst kein "68-er". Aber ich habe sie immer verteidigt. Ihre kritischen Fragen waren notwendig.

Blieben Sie in der Wissenschaft?

Ja, aber ich wurde vorübergehend auch Hochschulpolitiker. 1972 wurde ich in den Senat der Universität Göttingen gewählt und zwei Jahre später zum Rektor. Aber nach einer Zeit merkte ich, daß man Hochschulpolitik eigentlich nur machen kann, wenn man Politiker ist. Da war sie wieder die Frage: Freiheit oder Macht. Der Preis war mir aber noch immer zu hoch und ich konzentrierte mich wieder auf die Wissenschaft. 1981 lernte ich Francois Furet kennen, den großen französischen Revolutionshistoriker. Er fragte: "Kannst Du nicht mal nach Paris kommen? Wir haben keine Leute, die Deutschland kennen." Also ging ich als Gastprofessor 1983 nach Paris.

Wie erging es Ihnen dort?

Stärker als zuvor habe ich in Paris gemerkt, dass meine geistigen Wurzeln in Deutschland sind. Wo gehört man hin? Europa bietet beides: die germanischen und die romanischen Wurzeln. Sie haben beide ihre raison d´etre, aber es ist schwierig, beides zugleich zu sein. Es ist wie beim Tischtennis: Sie müssen wissen, mit welcher Hand Sie am besten spielen - mit der Rechten oder mit der Linken? Ich spiele besser mit der deutschen. Das spüre ich, wenn ich präzise sein will, auch bei der Lyrik oder bei der Poesie. In Frankreich darf man gewisse Gefühle nicht zeigen, da gibt es la culture du non-dit. Zugleich gibt es bestimmte Gefühle, die sich nur im deutschen Kontext zeigen - sonst hätte es keinen Goethe gegeben.

Können Sie die Deutschen und die Franzosen charakterisieren?

Ich benutze oft das Bild der Zwillinge, die beide von Karl dem Großen, Charlemagne, abstammen. Die Kindheit ist uns gemein. Das heißt, beide Zwillinge wissen, was dem anderen fehlt und verhalten sich konvergent zueinander. Doch trotz aller Konvergenz merkte ich, daß mein Herz deutsch fühlt und mein Verstand sehr oft französisch denkt. Ich zog nach Göttingen zurück. Später erhielt ich erneut eine Anfrage aus Paris, wieder von Francois Furet: "On a besoin de toi." So kam es, daß ich 1989 den Fall der Mauer in Paris erlebte.

Ahnten Sie, daß die Mauer fallen würde?

Nein. Ich bin Historiker und kein Prophet! Aber als im Herbst 1989 in Deutschland ein Stück Weltgeschichte geschrieben wurde, konnte ich nicht nur in Paris sein. In der Nähe von Göttingen erlebte ich, wie die Grenze sich öffnete und erzählte davon in Paris. Damals hat sich ganz Frankreich für Deutschland interessiert. Als ich in meiner Vorlesung als Professor der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales von Deutschland sprach, kamen immer mehr Zuhörer. Das war der Anfang der Discours de Rudolf von Thadden, die mich auch in den Quai d´Orsay und den Élysée führten.

Wie kam es, dass Sie auf diese Vorgänge so stark europäisch reagierten?

Das lag insbesondere an meinen Erfahrungen mit Deutschland und Frankreich, aber auch an der Vielfalt der Prägungen durch meine Familie. Mein Vater war ein Preuße, meine Mutter stammte aus Bayern. Durch die Welt meiner Mutter habe ich manche Prägung aus dem Süden sowie eine italienische Urgroßmutter, während mein Vater auch französische Vorfahren hatte. Von meiner Mutter habe ich gelernt, nicht alles im Leben ernst zu nehmen und mit den Dingen spielerischer umzugehen. In der protestantischen Welt des Nordens hat man häufig ein unmittelbares Verhältnis zur Wirklichkeit, während in der katholisch geprägten romanischen Welt vieles vermittelt, mittelbarer ist. Hier steht ein Priester zwischen den Gläubigen und Gott; der evangelische Pastor ist dagegen nur ein Interpret, kein Vermittler des Heils.

Schon in meiner eigenen Familie habe ich gelernt, dass es Europa eigentlich immer nur im Plural gibt. Doch bei aller Unterschiedlichkeit in Hinblick auf kulturelle Prägungen und die eigene Geschichte verbindet uns in Europa dennoch vieles. So stelle ich mir Vorgänge in Europa immer gerne - und zuweilen auch ironisch - als Familienleben vor: In dieser Famlie haben wir einen griechisch-römischen Vater und eine jüdische Mutter - durch die Bibel. Das erste Kind ist eine Tochter, eine schöne Italienerin. Das nächste Kind ist ein Franzose. An dritter Stelle folgt - in einem Altersabstand von elf Monaten - der Deutsche. Und der ist physisch etwas stärker als sein französischer Bruder, il est plus costaud. Nach zwei Jahren Pause kommt ein weiterer Sohn, der Engländer, qui joue avec les différences des autres. Er nutzt die Gegensätze zwischen den beiden älteren Brüdern aus und ist ein pragmatischer Politiker. Wiederum zwei Jahre später folgt erneut ein Sohn: der Spanier - dessen Vater vielleicht auch ein Araber war und der darum Fragen der Identität deutlicher stellt. Dann gibt es noch eine jüngere Tochter: die Polin. Sie leidet unter den Rivalitäten der Brüder und verbündet sich mit ihrer ältesten Schwester, der Italienerin, die ihr sagt: "Ne les prends pas trop au sérieux".

Es lohnt sich, Europa auch einmal als Familie zu denken - mit Familienmitgliedern, die sich nahe sind, aber auch mit allen Verschiedenheiten und Farben, die zum Leben einer großen Familie dazugehören.

Ist Ihr Europa-Bild vornehmlich von geschichtlichen Erfahrungen und Idealen geprägt?

Nein. Auch von Erfahrungen der Ängste. Die haben im Leben der Völker immer eine große Rolle gespielt, man muss sie ernstnehmen. Allerdings sind sie häufig unterschiedlich geprägt. In Frankreich ist z.B. die Angst vor dem Versagen und Scheitern stärker ausgeprägt als in Deutschland. Dafür fürchten die Deutschen mehr als die Franzosen Instabilität und Unordnung. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist östlich des Rheins stärker entwickelt, wie nicht zuletzt auch die Diskussion um die Nuklearenergie zeigt.

Anne Schmitt
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