Grundschul-Lesestudie Pirls

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d'Lëtzebuerger Land du 29.11.2007

In der fünften Klasse ist die Welt noch in Ordnung. So sieht – auf den ersten Blick – das Ergebnis der internationalen Grundschul-Lesestudie Pirls (Progress in international readingliteracy study) aus, die Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres am Mittwochnachmittag vorgestellt hat. Zahlreiche Journalisten waren gekommen, wohl in Erwartung einer weiteren Hiobsbotschaft zum Luxemburger Bildungssystem. 

Doch der Schock blieb aus. Was Grundschulinspektor und Pirls-Koordinator Pierre Reding anhand von zahlreichen Schautafeln demonstrierte, war in vielen Punkten nicht neu – und erstaunlich positiv: Luxemburgs Grundschüler können ganz gut lesen und Texte verstehen, im internationalen Vergleich mit 45 anderen Ländern landeten sie auf einem beachtlichen sechsten Platz, vor Deutschland (Platz 11), Belgien (13/35) und Frankreich (27). „Vielleicht haben unsere Schüler durch das frühe und viele Lesen in Vorschule und Kindergarten und durch den intensiven Umgang mit mehreren Sprachen einen Vorteil“, versucht Reding die guten Ergebnisse zu erklären. Die Schüler selbst sehen ihre Leistungen nicht so positiv: Sie beschreiben sich eher als Lesemuffel.

Anders als in den meisten anderen Teilnehmerländern unterscheidensich die Werte zwischen Mädchen und Jungen nicht wesentlich voneinander; ein „Jungenleseproblem“ hat Luxemburg zumindest in der Grundschule noch nicht. 15 Prozent der rund 5 000 getesteten Schüler lesen zudem auf höchstem Niveau. Elf Prozent sind allerdings leseschwach, sie können lediglich einfache Texte lesen und einfache Informationen dazu wiedergeben.

Spätestens hier bestätigt sichdas Bild, das viele aus der Pisa-Untersuchung kennen: Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern oder mit Migrationshintergrund haben deutlich schlechtere Karten als ihre luxemburgischen Mitschüler. Statt ungleiche Startchancen auszubessern, schreiben LuxemburgsSchulen die Benachteiligungen fort. Die Leistungsunterscheide zwischen Arbeiterkindern und solchen aus Akademikerfamilien sind frappierend: „In Luxemburg liegt der Wert bei 66 Punkten, womit Luxemburg zu den Ländern gehört, in denen der soziale Hintergrund überproportional mit den Leistungen der Schülerinnen und Schüler zusammenhängt“, steht im Bericht.

Damit ist Luxemburg nicht allein: In sämtlichen Teilnehmerländern erzielen die Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil ein Unidiplom besitzt, bessere Leistungen. Hingegen stammt nahezu die Hälfte der Luxemburger Kinder mit geringen Lesekompetenzen aus Elternhäusern, die das Régime préparatoire, den Cycle inféreur oder nur die Primärschule abgeschlossen haben. Kinder, bei denen Mutter und Vater im Ausland geboren sind, schneiden deutlich schlechter ab als ihr luxemburgischen Kollegen, „sie legen aber immer noch über dem weltweiten Durchschnitt“, betont Pierre Reding. 

Genaudas ist aber ein weiterer Knackpunkt der 300-seitigen Pirls-Untersuchung. Denn es ist unklar, inwieweit die luxemburgischen Ergebnisse mit denen anderer Staaten vergleichbarsind. Der Lehrplan an Grundschulen sieht Deutsch als Sprache für die Alphabetisierung in der ersten Klasse vor. Ein Großteil der hiesigen Primärschüler, rund 40 Prozent, ist nicht in Luxemburg geboren und spricht zuhause weder Deutsch noch Luxemburgisch.Als vor zwei Jahren mit den – in deutscher Sprache verfassten –Vortests zu Pirls begonnen wurde, verständigten sich das Bildungsministerium und die zuständigen Experten der IEA (International Association for the Evaluation of EducationalAchievement) in Boston darauf, in der fünften Klasse zu prüfen, stattwie sonst bei Pirls üblich in der vierten Klasse. Damit sollte den spezifischen Sprachgewohnheiten Rechnung getragen werden. „Man muss mit dem Ranking vorsichtig sein“, warnt Romain Martin. Um Klarheit darüber zu bekommen, wie die Ergebnisse ausgefallen wären, wenn in der vierten Klasse geprüft worden wäre, plädiert der Bildungsforscher dafür, beim nächsten Pirls-Test zusätzlich die vierten Klassen einzubeziehen; die Ministerin hat ihre Unterstützung dafür zugesagt.

Noch eine Luxemburger Besonderheit erschwert die Datenanalyse:Luxemburgs Kinder bleiben übermäßig häufig sitzen; mit 4,6 Prozent in der ersten, 5,3 in der zweiten und 6,2 Prozent in der dritten Klasse hat das Land eine der höchsten Sitzenbleiber-Quoten weltweit. Erst ab der fünften Klasse sinkt die Rate (um in den Sekundarschulen wieder massiv zu steigen); wahrscheinlich, weil viele Betroffene die Grundschule vorzeitig in Richtung Sonderschule (Éducation différenciée), Régime préparatoire oder Ausland verlassen. Wie groß ihre Zahl ist, ist nicht bekannt. Für die Leseuntersuchung bedeutet dies, dass das Durchschnittsalter der Luxemburger Testpopulation deutlich höher liegt als in den meisten anderen Ländern, nämlich bei 11,4 statt bei 10,9 Jahren. Die Land-Frage, ob der Altersunterschied das Ergebnis geschönt haben könnte, verneint Charles Berg, Mitglied der nationalenPirls-Expertengruppe. Weil die Ergebnisse der älteren Klassenwiederholer in der Regel schlechter ausfallen, würden sich diese mit den besseren Resultaten ihrer jüngeren Klassenkameraden„die Waage halten“.

Das lässt aufhorchen: Schüler, die wegen schlechter Noten zur Ehrenrunde verdonnert werden, bringt das offenbar viel weniger als oft angenommen, wie schon die Analyse zum Klassenwiederholenaus dem Jahr 2004 angedeutet hatte. Das Sitzenbleiben scheint sich kontraproduktiv auf ihre Leseleistungen auszuwirken. Dass dasGros der Luxemburger Schüler zwar gut liest, aber nicht gern und das Schulklimazudemals extrem schlecht einstuft, könnten erste Hinweise auf spätere Schulprobleme sein.

Denn die entscheidende Frage kann Pirls nicht beantworten: Was bedeuten die guten Resultate der Luxemburger Grundschüler im weiteren Verlauf ihrer Schulkarriere? Und was für die Performanz des Bildungssystems insgesamt?Vielleicht sagen die Expertenmehr dazu, wenn am Dienstag die Unterrichtsministerin die nunmehrdritte Pisa-Studie vorstellt, dieses Mal mit dem Schwerpunkt Naturwissenschaften. Über die spanische Lehrerzeitung Magisnetsickerten bereits erste Ergebnisse durch: Luxemburg belegtdemnach einen schlechten 34. Platz (von 57 Ländern), Zwergstaat Liechtenstein schafft es hingegen auf Platz 10.

Auch wenn die beiden Bildungsstudien in ihrer Methodik nicht ohneweiteres zu vergleichen sind – Pirls setzt bei der Klassenstufe an, während Pisa die Leistungen der 15-Jährigen misst –, könnten die Ergebnisse aufschlussreichsein. Schon Pisa 2003 – mit Schwerpunkt Mathematik – hatte einen erheblichen Nachholbedarf bei Luxemburgs Schülern im Sekundarunterricht festgestellt und aufdie Bedeutung von Herkunft und sozialer Stellung hingewiesen. Sollte Pisa 2006 diesen Trend bestätigen, fragt sich, wie die Grundschule schafft, was den Sekundarschulen offenbar nicht gelingt: möglichst vielen Kindern ein hohes Niveau an (Lese-)Kompetenzen zu vermitteln.  

Für eine Antwort ist es noch zu früh, aber als Pisa-Verlierer Deutschland vor zwei Jahren seine Ergebnisse der Pirls-Studie vorstellte, standen die Experten dort vor einem ähnlichen Rätsel. Die Tatsache, dass deutsche Grundschüler besser abschnitten als ihre 15-jährigen Kollegen bei Pisa erklärte Pirls-Studienleiter Wilfried Bos, übrigens Ko-Autor des luxemburgischen Pirls-Bericht 2007, damals damit, in der deutsche Grundschule würden Kinder „noch individueller gefördert als auf den weiterführenden Schulen“.

Träfe dieseAntwort auch auf Luxemburg zu, dann hätte das Schulsystem vor allem zwei Problemzonen: die Orientierung und die weiterführenden Sekundarschulen. Allerdings wurden im Rahmen der Pirls-Studie auch Grundschullehrer zu ihrer Unterrichtspraxisbefragt, mit dem Ergebnis, dass der traditionelle lehrergelenkteUnterricht dominiert und es nur wenige Angebote zur Individualisierung und zur Förderung schwacher Schüler gibt. Womöglich treffen diese Defizite in noch massiverer Form auf den Sekundarschulbereich zu – schließlich unterrichten dort Fachspezialisten statt studierte Pädagogen.

Beim deutschen Nachbarn jedenfalls hat der Pisa-Pirls-Vergleich dazu geführt, das Schulsystem und die Zeit nach der Primärschule grundsätzlicher in Frage zu stellen. Man müsse die „Durchlässigkeit nach oben“ erhöhen, um die bestehenden Ungleichheiten abzubauen, so Wilfried Bos. Renate Valtin, Professorin für Allgemeine Grundschulpädagogik an der Berliner Humboldt-Uni und ebenfalls Ko-Autorin der Luxemburger Pirls-Studie, wurde noch deutlicher: In einem Interview mit der Berliner taz machte sie die Dreigliedrigkeit des deutschen Schulsystems dafür verantwortlich, dass „Kinder gleichen IQs, gleicher Lesefähigkeit und gleicher sozialer Herkunft sich auseinander entwickeln, weil sie in verschiedene Schulformen gesteckt“ würden. Nach dem Motto: „Wer aussortieren kann, der braucht sich keine Gedanken um das Fördern zu machen.“ Sechs Jahre nach der ersten Pisa-Studie bewegt sich in der deutschen Schullandschaft so manches: Die Hauptschule, klassisches und viel kritisiertes Auffangbecken für Bildungsbenachteiligte aller Art und Couleur, steckt tief in der Krise,einige Bundesländer haben daher ihre Abschaffung beschlossen.

Eben diese Debatte um Strukturreformen und eine völlig neue Förderkultur entwickelt sich hierzulande noch viel zu zögerlich. Sie wird, wenn überhaupt, nur in Fachkreisen geführt. Sie fühle sich durch die Empfehlungen der Pirls-Experten in ihrer Politik bestätigt, freute sich MadyDelvaux- Stehres auf der Pressekonferenzund sie wies auf Maßnahmen hin, die sie im Plan d’action des langues und mit dem Entwurf zur Grundschulgesetzreformeinführen will: Differenzierung für immer heterogener werdendeKlassen, individuelle Förderung, mehr Sensibilität für die komplizierte Sprachensituation und Spracherwerbsprozesse...

Doch weder das rigide 60-Punktesystem, noch die selektierendeOrientierung hat die LSAPPolitikerin bislang angetastet – unddamit zwei Grundpfeiler der „Orientierung nach unten“. Von einer differenzierteren Bewertung in den Hauptfächern Deutsch, Französisch und Mathe einmal abgesehen, ist die Ministerin sogar auf bestem Wege, das Rad zurückzudrehen: Im Pilotprojekt Proci im technischen Sekundarunterricht werden die Weichen für die spätere schulische Laufbahn nun doch schon nach der achten Klasse gestellt statt nach der neunten. Die Ansätze für eine so genannte Kultur des Förderns im Sekundarunterricht sind eher punktuell und hängen entscheidend von der Initiative der einzelnen Schule ab.

Wie tief hingegen die Selektions- und Defizitkultur ins Schulsystem eingelassen ist, wie sehr sich viele Akteure an den alltäglichen Skandal der strukturellenDiskriminierung ganzer Gruppen von Schüler gewöhnt haben, zeigt die anhaltende Weigerung, bestehende Selektionsmechanismen zu hinterfragen. Wie kann es sein, dass einige Grundschulen ganz ohne Klassenwiederholungen auskommen, wie die Klassenwiederholerstudie von 2004 feststellte, während andere Quoten von zehn Prozent und mehr aufweisen?Oder dass in bestimmten, sozial besser gestellten Regionen mehrEmpfehlungen fürs Lyzeum ausgesprochen werden als in anderen – wenn man doch davon ausgehen müsste, dass Intelligenz annähernd gleich verteilt ist? Und im Sekundarunterricht: Was bringen Ferienarbeiten und Nachexamen wirklich? Verstärken sie nicht eher vorhandene Ausschlusstendenzen, in dem sie erlauben, Problemfälle nach außen oder unten abzuschieben?

Auch der aktuelle Streit um den Technikerabschluss ist insofern entlarvend, weil sich dort die typischen Reflexe zeigen: Statt gemeinsam zu überlegen, wie möglichst viele Jugendliche einen guten Schulabschluss erhalten können, ohne von einem schulischen Misserfolg zum nächsten zu stolpern und irgendwann frustriert die Schule ganz ohne Diplom zu verlassen, kämpft das Bildungsbürgertum (und mit ihm die Gewerkschaften) für das Abitur einiger weniger: Die luxemburgische Elite sorgt sich um ihre Kinder. Pirls könnte auch ein Anfang sein, derartige Denkfiguren aufzubrechen. 

Ines Kurschat
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