Während Amazon seine Firmenstruktur in Luxemburg umbaut und seine Gewinne in Europa umverteilt, verhandelt Luxemburg mit den USA über Schiedsgerichte, die Transferpreisfragen verbindlich klären sollen

Keine exakte Wissenschaft

d'Lëtzebuerger Land du 02.09.2016

Treaty obligations Die Ermittlung der Transferpreise sei „keine genaue Wissenschaft“. Das hatte das Luxemburger Finanzministerium in seinem Schlagabtausch mit den EU-Wettbewerbsbehörden im Vorfeld zu deren Entscheidung, Fiat Finance and Trade (FFT) müsse in Luxemburg Steuern nachzahlen, mehr als einmal betont. Sie wollte damit den Methodenmix rechtfertigen, den die Steuerberater von KPMG im Vorbescheid von Fiat Finance and Trade angewandt hatten, um zu bestimmen, wie hoch die zu versteuernde Rendite der in Luxemburg angesiedelten Finanzabteilung des Automobilkonstrukteurs sein soll.

Ob man es deshalb in Zukunft lieber unabhängigen Schiedsrichtern überlassen will, zu klären, welche Preise multinationale Konzerne einsetzen dürfen, wenn sich ihre verschiedenen Tochtergesellschaften gegenseitig mit Dienstleistungen oder Waren beliefern? Laut dem White Paper The European Commission’s recent state aid investigations of transfer pricing rulings des US-Finanzministeriums, das vergangene Woche zusammen mit einem bereits im Januar an den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker geschickten Brief veröffentlicht wurde, ist Luxemburg eines der Länder, mit denen die USA darüber verhandeln, ein multilaterales Schiedsgerichtssystem zur Klärung von Transferpreisfragen einzuführen. In der Fußnote Nummer 91 auf der Seite 23 heißt es dazu: „The U.S. Treasury Department has long been a strong proponent of binding mandatory arbitration to more efficiently resolve disputes, and has worked with a group of countries, including Belgium, Ireland, Luxembourg and the Netherlands, over the past year on developing a multilateral instrument to incorporate it into existing treaties.“ Diese Schiedssprüche sollen den amerikanischen Vorstellungen nach über den Entscheidungen nationaler, beziehungsweise supranationaler Instanzen wie etwa den EU-Wettbewerbsbehörden stehen und von diesen nicht mehr angefochten werden können. Denn es heißt weiter: „Any treaty obligations to resolve transfer pricing disputes including through arbitration may be undermined if the resolution of disputes regarding State aid adjustments can be effectively overruled by the Commission.“

Diese Darstellung der USA, Luxemburg sei Teil der Bemühungen, ein solches multilaterales Instrument zu entwickeln, bestätigte das Finanzministerium bis Redaktionsschluss nicht. Es widersprach ihr aber auch nicht. Kurz vor der Sommerpause hinterlegte die Regierung den Gesetzentwurf 7006 im Parlament, der ein Protokoll zur Änderung des luxemburgisch-amerikanischen Nicht-Doppelbesteuerungsabkommen vorsieht. Mit dem Protokoll sollen Schlupflöcher gestopft werden, die es in beiden Ländern tätigen Firmen möglich machen, ihre Einnahmen weder dies- noch jenseits des Atlantiks zu versteuern. Doch es führt auch die sogenannte MAP (mutual agreement procedure) in das Abkommen ein, durch die sich die jeweiligen Steuerbehörden in Streitfragen einigen sollen, zum Beispiel wenn eine Firma Vorteile fordert, die ihr durch den Vertrag eigentlich nicht zustehen. Dann, heißt es im Gesetzentwurf: „L’autorité compétente de l’État contractant à laquelle une demande a été présentée se consultera avec l’autorité compétente de l’autre État contractant avant d’accorder ou refuser la demande présentée (...).“

Diese MAP ist nicht neu, von der OECD in ihren Steuerregeln auch vorgesehen und in Paris wird darüber Buch geführt. Die neuesten OECD-Statistiken gehen auf das Jahr 2013 zurück, als die Luxemburger Steuerbehörde an 45 neuen „gemeinschaftlichen Einigungsprozeduren“ beteiligt wurden. Doch die Einführung der MAP in das Steuerabkommen mit den USA kann man als ersten Schritt hin zu obligatorisch unanfechtbaren Schiedssprüchen hin betrachten. Mit Belgien haben die USA bereits 2009 ein Memorandum of Understanding über die Bestimmung der Schiedsrichter im Rahmen der MAP unterzeichnet. „The competent authorities will appoint members who have significant international tax experience. They need not, however, have experience as either a judge or arbitrator. Every member of an arbitration board shall be impartial and independant of the contracting states and the Concerned Persons at the time of accepting an appointment to serve, and shall remain so during the entire arbitration proceeding.“ Von Belgien abgesehen haben die USA mit Deutschland, Frankreich und Kanada Protokolle zur Mandatory Tax Treaty Arbitration abgeschlossen.

Dass ausgerechnet in der heiklen Frage der in Steuervorbescheiden eingesetzten Transferpreise Schiedsrichter hinter geschlossenen Kanzleitüren entscheiden sollen, während einerseits mehr Steuertransparenz und -gerechtigkeit propagiert wird, und die Privatisierung der Justiz zur Klärung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Unterzeichnerstaaten des TTIP-Freihandelskommen einer der Hauptkritikpunkte an diesem Abkommen sind, hat eine ganz eigene Logik.

Dollar for dollar Auf welche Seite sich die Luxemburger Regierung im Armdrücken zwischen Washington und Brüssel stellt, kann man aus dem White Paper des US-Finanzministeriums herauslesen. Darin liefern die Amerikaner quasi das fertige Plädoyer, das die Anwälte der Luxemburger Regierung beim Europäischen Gericht vortragen können, wenn das Verhandlungsdatum für die Berufung im Fall Fiat steht. Angesichts der vielen Verfahren, welche die EU-Kommission eröffnet hat, sorgen sich die USA um ihre eigenen Steuereinnahmen. „There is a possibility that any repayments ordered by the Commission will be considered foreign taxes that are creditable against U.S. taxes owed by the companies in the United States. If so, the companies’ U.S. tax liability would be reduced dollar for dollar by theses recoveries when their offshore earnings are repatriated or treated as repatriated as part of a U.S. tax reform. To the extent that such foreign taxes are imposed on income that should not have been attributable to the relevant Member State, that outcome is deeply troubling, as it would effectively constitute a transfer of revenue to the EU from the U.S. government and its taxpayers.“

Suffisamment spécifique Deshalb kommen die Amerikaner zum Schluss, dass die EU-Kommis­sion sich auch im Fall Fiat irrt, weil sie nicht gezeigt habe, dass Fiat durch das umstrittene Ruling ein Vorteil gewährt wurde, der darüber hinaus „selektiv“ sei, also andere Firmen davon nicht profitieren könnten. Das ist nach den europäischen Regeln Vor­aussetzung dafür, dass eine „illegale“ Staatsbeihilfe gewährt wurde. Das sind genau die Argumente, mit denen Luxemburg vor Gericht Berufung gegen die Entscheidung eingelegt hat. Die Kommission macht dem US-Finanzministerium nach folgenden Fehler: Sie gehe davon aus, dass Einzelunternehmen, die Dienstleistungen und Waren bei Dritten einkaufen und Multis, deren Filialen sich teils gegenseitig beliefern, sich in einer vergleichbaren Situation befänden, obwohl dem nicht sei. Damit versuchen die Amerikaner eine technische Lösung für ein politisches Problem zu finden. Dass Multis die Steuerlast unter anderem via Transferpreise klein rechnen können, während eigenständige Firmen das nicht können, ist genau das Phänomen, das EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager unterbinden will. Das Gefühl dafür, dass dies ungerecht sei, war auch für Antoine Deltour Anlass, die als Luxleaks bekannt gewordenen Rulings bei seinem ehemaligen Arbeitgeber PWC zu kopieren.

In der erst nach Monaten öffentlich gemachten vollständigen Entscheidung in der Fiat-Sache kann man nachlesen, wie die Kommission dieses Problem auf ihre Weise löst. Das Rundschreiben der Steuerverwaltung, auf dem das Fiat-Ruling beruht, sei zu undetailliert, um als rechtliche Grundlage dafür herzuhalten, dass Multis wie Fiat eine eigene Gattung Steuerzahler seien, die Transferpreise geltend machen können. Deshalb würden sie, wie für alle anderen Firmen, ob groß oder klein, der allgemein gültigen Abgabenordnung unterliegen. So rächt sich für Luxemburg und Fiat in der Vergangenheit, nach dem Leitsatz, „was nicht verboten ist, ist erlaubt“,  die Rulings sowie die Transferpreise nur mit einem Gesetzesrahmen „light“ ausgestattet waren.

Dabei ist es beileibe nicht so, als ob die Kommis­sion nicht nach vergleichbaren Fällen gefragt hat, um zu ermitteln, ob Fiat eine Sonderbehandlung zuteil wurde, oder ob auch andere Firmen ähnliche Vorteile erhalten haben. Doch in der „Lettre du Luxembourg du 24 mars 2015“ schrieb die Steuerverwaltung der Kommission: „En réponse à la demande de la Commission, qui l’invitait à lui communiquer des exemples de rulings ayant pour destinataires des contribuables se trouvant dans une situation similaire à celle de FFT, le Luxembourg a indiqué (...) que la situa­tion de FFT était très particulière. (...) De plus, selon l’administration fiscale luxembourgeoise, la situation de chaque contribuable est sufffisamment spécifique pour rendre impossible toute comparaison avec celle d’autres contribuables. Ce serait pourqoui le droit national luxembourgeois ne contient qu’une disposition générale servant de cadre aux prix de transfert (...), qui lui permet d’appréhender de façon aussi précise que possible la réalité économique de chaque cas, qu’il fasse ou non l’objet d’un ruling fiscal.“ Während Luxemburg der Kommission vorwirft, nicht bewiesen zu haben, dass Fiat eine Sonderbehandlung erhielt, argumentierte die Steuerverwaltung im Vorfeld gegenüber den Wettbewerbsbehörden also, dass es in Luxemburg nur Sonderfälle gebe. Tatsächlich konnte auch die Kommission in den 5 323 in den Jahren 2011, 2012 und 2013 von Luxemburg ausgestellten Rulings nur 13 Gesellschaften mit ähnlichen Aktivitäten wie denen von Fiat ermitteln, aber elf von ihnen wählten in ihrem Ruling eine andere Vorgehensweise als der Autokonzern.

Radiation In der Zwischenzeit ist aus Fiat Fiat Chrysler Automobiles geworden, was zu einem verstärkten Interesse der US-Behörden geführt haben dürfte. Doch deren Hauptanliegen beim Schreiben ihres White Papers dürfte das Schicksal von Apple, Google und Amazon gewesen sein. Die EU-Kommission verdonnerte Irland am Dienstag dazu, 13 Milliarden Euro Steuern von Apple nachzufordern. Beziehungsweise, es dürfen auch andere Länder Forderungen im Rahmen der 13 Milliarden Euro stellen. Als Vestager die Strafen für Fiat und Starbucks verhängte, regten sich unter anderem italienische Journalisten darüber auf, dass ausgerechnet das Steuerparadies Luxemburg von den Nachzahlungen profitieren solle. Fiat hat in der Zwischenzeit seine Steuernachforderung, in Erwartung des Berufungsprozesses, auf ein Treuhandkonto eingezahlt. Wie viel genau Fiat den Berechnungen der Steuerverwaltung zufolge nachzahlen musste, teilte das Finanzministerium bis Redaktionsschluss nicht mit.

Eine Entscheidung im Fall Amazon steht noch aus. Im Frühjahr hatten internationale Medien spekuliert, eine Steuernachforderung um die 400 Millionen Euro könne noch vor der Sommerpause angekündigt werden, dann, sie könne kurz nach dem Sommer kommen. Doch beim Luxemburger Finanzministerium, das die Entscheidungen kurz vor deren Veröffentlichungen erhält, ist bisher nichts eingegangen. Man wartet.

Amazon selbst ist nicht untätig geblieben. Am 1. Mai hatte der Online-Händler bekannt gegeben, künftig mehr Steuern in anderen EU-Ländern bezahlen zu wollen, anstatt seinen europäischen Umsatz durch Luxemburg zu schleusen und dort zu sammeln. Möglich war das, weil Amazon Europe Holding Technologies, die Holding an der Spitze der Amazon-Gesellschaften in Luxemburg, eine „steuertransparente“ Société en commandite simple (SCS) war, deren Gewinne nicht in Luxemburg, sondern mit denen ihrer Aktionäre – Amazon in den USA – versteuert werden sollen, wenn sie dorthin zurückgeführt werden. Trotz Feiertag fand gleichzeitig eine außerordentliche Hauptversammlung der Holding statt. Aus der SCS wurde eine gewöhnliche Sàrl, die also durchaus in Luxemburg besteuert werden müsste. Doch Amazon Europe Holding Technologies gibt es nicht mehr. Sie wurde am 11. Juni mit Amazon Europe Core Sàrl fusioniert und aus dem Firmenregister gestrichen. Dass die Holding in Form der SCS kein Kunstgebilde gewesen sein soll, um die europäischen Einnahmen steuerfrei in Luxemburg zu sammeln, dürfte Amazon danach nur noch schwer glaubhaft machen können.

Bis Ende Dezember 2015 hatte Amazon den Jahreszahlen zufolge in seiner Holding Kapital und Gewinne von 2,824 Milliarden Euro angesammelt. Doch bereits vergangenen August begann die Firma damit, ihr Geld wieder dahin zu verteilen, wo sie es eingesammelt hatte: in Europa und auch in Asien. Sie investierte 596 Millionen Euro in Amazon Eurasia Holdings Sàrl. und 234 Millionen Euro in Amazon Europe Core Sàrl, mit der sie später fusionierte. Letztere kaufte ihrerseits Beteiligungen an konzern­eigenen Videoplattformen und Logistikfirmen in Großbritannien, Deutschland und der Tschechischen Republik von anderen Konzerneinheiten oder stockte deren Kapital durch Bargeldtransfers auf, für einen Gesamtbetrag von 529 Millionen Euro. Amazon Eurasia Holdings Sàrl wiederum „steigerte ihre Investitionen“ in einer Tochtergesellschaft in Singapur um 590 Millionen Euro.

So transferierte Amazon zwischen August  und Dezember 2015 insgesamt 1,118 Milliarden Euro in Luxemburg angesammelte Gewinne in Form von Firmenbeteiligungen zurück in die EU und nach Singapur. Interesse daran, die europäischen Gewinne in die USA zu überweisen, hat Amazon kaum. Denn auch der US-Fiskus fordert vom Online-Händler Steuern nach; 1,5 Milliarden Dollar, weil er die von Amazon eingesetzten Transferpreise für den Verkauf von Konzerntechnologie und Software an die nicht mehr bestehende Amazon Europe Holding Technologies anzweifelt. Der Prozess vor einem Gericht in Seattle läuft noch. Bis Redaktionsschluss reagierte Amazon nicht auf Anfragen um ein Stellungnahme.

Michèle Sinner
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